Leben im Käfig (German Edition)
ein paar Wahrheiten auseinandergesetzt, die er zu gerne verdrängte. Wahrheiten wie die Tatsache, dass das echte Leben nicht in der Villa seiner Eltern stattfand. Oder dass es das Natürlichste von der Welt gewesen wäre, sich zu Sascha und dessen Freundin zu gesellen, als sie sich im Garten miteinander unterhielten.
Ein anderer junger Mann wäre ihnen schlicht auf den Leib gerückt; und wenn nur, um eifersüchtig sein Revier zu markieren.
Aber Andreas konnte das nicht. Und zwar nicht nur, weil ihn der Gedanke erschreckte, bei Tageslicht offen zu seinem Freund zu stehen, weil sie der Postbote oder sonst jemand sehen könnte.
Nein, er war nicht in der Lage, das Haus zu verlassen. Selten war ihm dieser Umstand bewusster und gleichzeitig gleichgültiger gewesen.
Denn es tat immer noch weh. Das Allein-gelassen-werden. Das Gefühl, hilflos zu sein. Die Funkstille in einer Zeit, in der seine Eltern ihn den letzten Rest seines Nervenkostüms kosteten. Nur hatte er mittlerweile erkannt, dass das Problem nicht bei Sascha lag.
Es lag bei ihm selbst. Und dafür musste und wollte er Abbitte leisten. Denn Sascha konnte er nicht verlieren. Um keinen Preis der Welt.
Schweigend trafen sich ihre Blicke.
Sascha scharrte mit den Füßen. Gummisohlen auf dem hässlich-türkisen Turnhallen-Linoleum. Er trug seine geliebte Jeansjacke, doch sie schien ihm an diesem Tag zu groß zu sein.
Andreas fühlte sich auf seinem Laufband mit einem Mal unwohl. Dabei hatte es ihm zuvor ein vages Gefühl von Freiheit vermittelt. Als würde er durch eine Wüste rennen statt in dem niedrigen Keller seines Elternhauses. Als würde er sich tatsächlich vorwärts bewegen und nicht nur in Gedanken.
Aber am Ende blieb er ein Hamster im Käfig und er wusste es.
„Wir sollten reden“, sagte Sascha ernst.
Er trug sein Kinn ein wenig zu hoch, als müsse er es mit Gewalt davon überzeugen, oben zu bleiben.
Andreas nickte ruckartig; bemüht, diesen unangenehmen Teil des Tages eilig hinter sich zu bringen.
Um seinem Freund erst gar nicht die Chance zu geben, ihm mit Vorwürfen zu überhäufen, haspelte er: „Du, ich weiß. Es tut mir leid. Ich habe mich aufgeführt wie eine eifersüchtige Schnepfe.“ Hastig sprang er vom Laufband und ging mit Todesverachtung auf Sascha zu: „Ich habe überreagiert. Ich weiß doch, wie viel Stress und Sorgen du hast. Und ich wollte dir nicht auch noch Druck machen. Ich meine, ich war immer der Erste, der gesagt hat, du sollst dich mit deinen Freunden treffen. Und dann komme ich dir doof. Echt, ich fühle mich dabei superdämlich. Denn ich ... ich warte seit Tagen darauf, dass du Zeit hast, und als du endlich da bist, versaue ich uns den Abend.“
Sehnsüchtig streckte Andreas die Hand nach Saschas Gesicht aus, zog es aber vor, ihn vorerst nur an der Schulter zu berühren. Sehr sanft. Ein mildes Versprechen, dass er sich in Zukunft zusammenreißen würde. Für Sascha.
„Dabei will ich doch auch nur alles vergessen und mit dir zusammen sein. Ich vermisse dich“, fügte er flüsternd hinzu und strich langsam von der schmalen Schulter abwärts, näherte sich tastend der Brust und legte schließlich seine flache Hand über Saschas Herz. Andreas suchte seinen Blick, bevor er raunte: „Es tut mir leid. Bitte entschuldige.“
Was er fand, war Verlegenheit. Etwas Unstetes, als hätte Sascha Mühe, sich zu entscheiden, was er empfand. Oder ob er Andreas verzeihen sollte.
Eine unsichtbare Barriere ging von ihm aus, die Andreas nicht von sich aus zu überwinden wagte und die ihn sehr nervös machte. Aber wenigstens erkannte er seinen Freund wieder, die Milde in seinem Blick, die vertraute Körperhaltung.
Nicht länger begegnete er dem Fremden vom Vortag. Das hier war Sascha, wenn auch seine melancholische Seite.
Der Stoff unter Andreas' Fingern war eigenartig präsent in seinem Empfinden, die Wärme darunter noch mehr. Vertraut, fest, sicher. Lebendig und real, wohingegen so viele andere Aspekte seines Lebens irreal erschienen. Er wollte Sascha küssen. Sofort. Ihn an sich zu ziehen und vereinnahmen, verschlingen, fressen, in sich aufnehmen. Mit Haut und Haar. Sein. Alles Sein.
Ein schüchternes Lächeln spielte um Andreas' Lippen, doch es hielt sich nicht, als die Sekunden dahinschlichen und kein Echo zurückgeworfen wurde. Nicht auf sein Handeln, nicht auf seine Worte.
Ihn überkam ein ungutes Gefühl. Eines, das er schon in der Nacht in sich keimen gespürt hatte, dem er sich jedoch mit seinem gesamten Selbst
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