Leben im Käfig (German Edition)

hergekommen ist. Der sich mit mir unterhalten hat. Der sich dafür interessiert hat, was ich denke. Aber das ist jetzt vorbei.
    Sind wir überrascht, dass er fort ist? Dass er nicht mehr wiederkommen wird? Nein, sind wir nicht! Denn dank euch kann ich in kein Kino gehen. In keine Disco. Nicht mal in den Garten.
    Mit mir ist nichts, aber auch gar nichts anzufangen. Ich bin ein stinklangweiliges Wrack. Eine Leiche, die keiner begraben hat.
    Warum habt ihr mich nicht rechtzeitig abgetrieben? Könnt ihr mir das mal verraten?
    Ihr wolltet keine Kinder, also hättet ihr es lassen und mir diese elende Existenz ersparen sollen. Ich hasse euch. Ich bin fertig mit euch! Ich werde gehen. Und wenn ihr versucht, mich aufzuhalten, schwöre ich, dass jede Zeitung von hier bis München und jeder billige Fernsehsender erfährt, was ihr mit mir gemacht habt! Bin mal gespannt, was eure Aktien dann noch wert sind!“
    Wenn seine Eltern reagierten, sah und hörte Andreas es nicht.
    Er stürmte an ihnen vorbei in Richtung Bibliothek. Seine Kehle war rau und das Adrenalin trieb ihn gnadenlos vorwärts.
    Vorbei, alles vorbei. Nur noch eine Frage der Zeit.
    Ungestüm riss er die Tür auf und sah seinen Lehrer mit betretener Miene mitten im Zimmer stehen. Ein dürres Männchen mit zu wenig Präsenz, zu wenig Ausstrahlung. Ein Diener seiner Eltern. Eine weitere Nummer auf der Lohnliste.
    Dr. Schnieder hatte sie gehört. Natürlich. Andreas war nicht zu überhören gewesen, aber er schämte sich nicht dafür. Ganz im Gegenteil: Er fühlte sich stärker denn je.
    Brachial ließ er sich in einen Ledersessel fallen und schloss die Augen. Seine Entscheidung schwebte über ihm wie das Schwert des Damokles. Sie pulsierte frisch in seinen Adern, schmolz seine Gedanken in neue Schmiedeformen, die unter Umständen schon bald wieder bersten würden.
    Bersten, wie all seine Träume und Wünsche bisher.
    Andreas hatte nicht mehr gehofft, bis Sascha in sein Leben trat. Und nun, da Sascha fort war, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder schnitt er sich die Pulsadern auf und starb oder er erhob sich auf die Hinterbeine, um sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.
    Von seinen Eltern oder Sascha hatte er nichts mehr zu erwarten. Nur auf sich selbst konnte er sich verlassen.
     Und vielleicht auf diesen Mann namens Dr. Schnieder, den er nie gemocht hatte, der in dieser Situation jedoch seine einzige Hoffnung war.
    Ein paar Sekunden, vielleicht eine halbe Minute, in der der Lehrer beharrlich schwieg, nahm Andreas sich Zeit.
    Nicht, um seine Entscheidung zu überdenken, sondern um aus seinem Leid, seinem Schmerz und seiner Verzweiflung einen Zopf zu flechten. Einen Zopf, der stark genug war, damit er sich daran aus seinem Turm abseilen konnte.
    Als Andreas die Augen öffnete, waren sie klar und eisern wie selten zuvor. Fest sah er Dr. Schnieder ins Gesicht, der ihm über die Jahre vermehrt ins Gewissen geredet und signalisiert hatte, dass es Wege gab, die es zu beschreiten galt.
    Rettung. Unterstützung. Ein Bergmassiv an Bemühungen, hinter denen die Freiheit lockte.
    Andreas atmete tief durch und ließ sich fallen. Stürzte an den Mauern seines Gefängnisses entlang, während er entschlossen sagte: „Ich kann so nicht mehr weiterleben. Ich brauche Hilfe. Bitte helfen Sie mir.“
     
    „ You broke the boy in me, but you won't break the man.“  
     John Parr – St. Elmo's Fire
     
     
    Ende des ersten Buches
 
     
     
     
     
     
     
     
     
    Kurzvita des Autors
     
    Raik Thorstad ist ein Nordlicht, das zwischen seinen Leidenschaften Schreiben und Musik (gelernter Musikalienhändler und Mitarbeiter diverser Musikmagazine) hin- und herpendelt, und sich unlängst für die Feder entschieden hat. Allerdings nicht für ein festes Genre. Psychologie, Historie, Endzeit, Fantasy. Warum sich Grenzen setzen?