Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
haben, als er nach außen zeigte, denn er hatte sich auf seinen Tod vorbereitet, und diese Kassette ist der Beweis.
»Worauf wartest du?«, kreischt mir Lizzy ins Ohr.
Lizzy hat ihre ganz eigene Art zu sprechen. Normalerweise schreit sie. Das liegt zum Teil daran, dass ihr Vater auf einem Ohr taub ist, weil er, als er noch jünger war, zu viele Rockkonzerte besucht hat. Zum Teil liegt es auch daran, dass sie ein bisschen klein geraten ist und das überkompensiert.
Ich antworte nicht und sie seufzt. Selbst ihre Seufzer sind laut. Die Ecken der Kassette bohren sich in meine nackten Beine, deshalb setze ich sie auf das Handtuch, das Lizzy auf dem Felsen zwischen uns ausgebreitet hat. Diese Kassette steht für all meine Hoffnungen, all meine Fehlschläge. Bevor ich irgendetwas anderes tue, muss ich noch mal über alles nachdenken, was in diesem Sommer war: der GROSSE FEHLER, der alte Mann, das Buch, die Lampe, das Fernrohr und genau diese Kassette, mit der alles anfing.
Kapitel 1: Die Kassette
22. Juni
»Ist dir jemals aufgefallen, dass am ersten Tag der Sommerferien die Farben irgendwie stärker leuchten?«, frage ich Lizzy. »Dass die Vögel lauter singen? Und tausend Möglichkeiten durch die Luft schwirren?«
»Huh?«, murmelt Lizzy und blättert durch die Comichefte an der Wand des Geschäfts von meinem Onkel Arthur, Fink’s Comic and Magic. »Ja, klar. Stärker, lauter, schwirren.«
Manche Leute würde es nerven, wenn ihr bester Freund ihnen nur halb zuhört, aber ich denke mir, Lizzy zuzutexten ist immer noch eine Stufe besser, als Selbstgespräche zu führen. Auf diese Weise starren mich zumindest die Leute auf der Straße nicht an.
In den kommenden beiden Monaten will ich ein oder zwei neue Zaubertricks lernen, die Lehrbücher für die achte Klasse aus der Bibliothek ausleihen, um mich in meinen Themengebieten schlauzumachen (was ich Lizzy aber nicht erzählen werde, sonst würde sie mich ständig hochnehmen), und ausschlafen, solange ich will. Es wird ein Sommer mit viel Freizeit werden und haargenau mittendrin liegen der State Fair von New Jersey und mein lang ersehnter dreizehnter Geburtstag. Normalerweise gehe ich sehr gern auf den State
Fair – es ist ein toller Jahrmarkt -, aber dieses Jahr muss ich unweigerlich bei einem der Wettbewerbe mitmachen, und davor graut es mir. Wenigstens liegt mein Geburtstag in derselben Woche. Ich habe es gründlich satt, als »Kind« betrachtet zu werden, ich lege großen Wert darauf, offiziell Jugendlicher zu sein. Endlich werde ich den Geheimcode für das Leben als Jugendlicher erfahren.
Hoffentlich gibt es einen Handschlag dazu. Ich wollte schon immer zu einem Club mit geheimem Handschlag gehören.
»Lauf!«, zischt mir Lizzy ins Ohr. Wenn Lizzy mir Lauf ins Ohr sagt, kann das nur eines bedeuten – sie hat etwas geklaut. Sie hat Glück, denn mein Onkel und mein Cousin Mitch sind im Hinterzimmer und haben sie nicht beobachtet. Beide haben nichts für Ladendiebe übrig.
Bis ich es endlich geschafft habe, meinen Comic ins Regal zurückzustopfen, ist Lizzy schon halb zur Tür hinaus. In ihrer Hast hat sie meinen Rucksack umgestoßen, den ich ordentlich zwischen uns auf den Boden gestellt hatte. Der gesamte Kram fliegt vor den Augen der anderen Kunden oben aus der Öffnung, deren Reißverschluss nicht zugezogen ist. Ich schnappe mir den Rucksack und werfe schnell mein zerfleddertes Exemplar von Zeitreisen für Dummies hinein, ein halb gegessenes Erdnussbutter-Sandwich, eine Packung Starburst Fruchtgummis, zwei mundgroße Peppermint-Pattie-Taler, verschiedenes Zubehör zu Zaubertricks, das ich über die Jahre gesammelt habe, die Wasserflasche, die ich immer bei mir trage, weil man nie genug Wasser in sich haben kann, den Astronautenstift, der es mir erlaubt, in jeder Lage zu schreiben (auch unter Wasser oder wenn ich auf dem Rücken liege), und zuletzt meine Geldbörse, in der immer mindestens
acht Dollar sind, weil mein Vater mal zu mir gesagt hat, dass ein Mann es immer bis nach Hause schafft, wenn er acht Dollar bei sich hat. Dann hole ich einen der Peppermint Patties wieder hervor, packe ihn rasch aus und stecke ihn in den Mund. Ich schreibe meinem Vater die Schuld dafür zu, dass ich so einen süßen Zahn habe. Sein Motto lautete: Das Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst. Wie sollte ich dem widersprechen?
Ich werfe mir den Rucksack über die Schulter, schlüpfe zur Tür hinaus und suche die Straße in beiden Richtungen nach Lizzy ab. Dank ihren
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