Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
weiter. Ein paar Minuten später studiere ich die Karte mit dem U-Bahn-Netz an der Wand, genau wie wir es beim ersten Mal getan haben. Ich muss auf halber Strecke umsteigen, eigentlich sind es also zwei U-Bahn-Fahrten. Ich gebe meine restlichen Fünfundzwanzig-Cent-Stücke für eine MetroCard aus und ziehe sie durch den Schlitz wie ein alter Profi. Nicht nötig heute, sich auf abergläubische Yankee-Fans zu verlassen.
Während ich auf die Bahn warte, beschließe ich, den Teil der Geschichte, in dem Mr Oswald Lizzys Karte in die Kassette steckt, wegzulassen, wenn ich Lizzy alles erzähle. Ich will ihr dieses Quäntchen Zauberei nicht rauben.
Als ich sitze und die Bahn wieder losfährt, öffne ich Mr Oswalds Umschlag. Ich ziehe den Brief heraus und sehe auf den ersten Blick, dass er von all dem berichtet, was Mr Oswald mir gerade erzählt hat. Ein kleiner gelber Umschlag ist am Ende des Briefs mit einer Büroklammer befestigt. In dem kleinen Umschlag steckt ein dünnes Stück Pappe. In dessen Mitte befindet
sich, geschützt von einer Plastikfolie, eine Briefmarke. Mein Herz beginnt, mir in den Ohren zu hämmern. Das ist Dads Briefmarke! Die, nach der er sein Leben lang gesucht hat! Ich drehe das Stück Pappe um. Dort steht eine Notiz.
Jeremy, ich bin letztes Jahr auf sie gestoßen. In Erinnerung an Ihren Vater hatte ich stets danach Ausschau gehalten. Ich möchte, dass Sie sie bekommen. Ihre Mutter habe ich schon um Erlaubnis gebeten, sie Ihnen schenken zu dürfen. Damit müssten Sie die College- und bei kluger Anlage vielleicht auch die Hochschulkosten abdecken können. Herzlichen Glückwunsch! Jetzt sind Sie ein Philatelist!
Ihr Freund
Mr O.
In meinen Augen brennen Tränen. Einen Tag wie diesen werde ich nie wieder erleben.
In diesem Moment fährt die U-Bahn in die Station ein, in der ich umsteigen muss. Ich schiebe die empfindliche Marke in den kleinen Umschlag zurück und stecke das Ganze vorsichtig in meinen Rucksack. Diese Marke, dieses winzige Stück bedrucktes Papier ist meine Zukunft. Ist das nicht wahrlich zum Staunen?
Als ich den Bahnsteig betrete, läuft irgendwo ein Radio. Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber das Lied habe ich noch nie gehört, glaube ich. Ein paar Leute gehen weg, und ich stelle fest, dass das kein Radio ist, sondern der Gitarrist, der aussieht, als sollte er lieber Football spielen. Der ist ja anscheinend ganz schön unterwegs!
Ich trete näher heran, damit ich besser zuhören kann. Als er
mit seinem Lied fertig ist, werfe ich einen Dollar in seinen aufgeklappten Gitarrenkoffer.
»Danke, Kumpel«, sagt er und beugt sich über die Gitarre, um eine Saite nachzuspannen.
»Ähm, kann ich Sie was fragen?«
Er schaut zu mir hoch. »Klar. Wo drückt’s dich?«
»Wie kommt es, dass Sie hier unten spielen, in den U-Bahn-Stationen? Ich meine, Sie sind echt gut.«
Er grinst. »Hier ist der Klang am besten, Alter. Die Akustik an diesem Ort ist geradezu unwirklich. Klang ist das Wichtigste von allem. Genau wie der Typ von den »Grateful Dead« gesagt hat, Musik ist der Klang des Lebens. Verstehst du, Sphärenmusik und das alles.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß nicht genau, was Sie meinen.«
Ein paar Leute haben sich um uns versammelt und hören zu. Er erklärt genauer. »Im Universum hallen bestimmte musikalische Schwingungen nach. Alle Sterne und Planeten drehen sich im Einklang mit ihnen. Verstehst du, wie ein einziger, großer, kosmischer Tanz. Wenn ich spiele, bin ich ein Teil davon. Wenn du zuhörst, bist du auch ein Teil davon.« Er zupft an der Saite, um sie zu testen. »Irgendwelche Wünsche?«
Ein Typ brüllt: »›Free Bird‹!« Eine Frau schreit: »›Bridge Over Troubled Water‹!« Ich werde allerdings nicht mehr mitbekommen, wofür er sich entscheidet, denn meine U-Bahn ist da.
Meine U-Bahn ist da. Der Klang dieses Satzes gefällt mir. Meine U-Bahn ist da und wird mich nach Hause bringen. Ich fühle mich so mutig, vielleicht überrasche ich ja Mom heute Abend damit, dass ich Blumenkohl oder Spargel oder – igitt – Rote Bete esse.
Nee. Wie Dad schon sagte, das Leben ist kurz. Ich werde weiter den Nachtisch zuerst essen.
Ich greife in meinen Rucksack und hole die Tüte Fun Dip heraus, die Lizzy mir zum Geburtstag geschenkt hat. Als ich die Zuckerstange in die Tüte mit blauem Zucker stippe, zieht mich ein kleines Mädchen, das neben mir sitzt, am Ärmel. Sie dürfte ungefähr fünf sein und trägt ein gelbes Kleid.
»Kann ich was abhaben?«
Ich werfe
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