Leben macht Sinn
Tun ein Weg beschritten wird, der Gefühle freisetzt, die sozusagen der »Klebstoff« sind, der Denken und Tun verbindet. Sinn wohnt im Herzen und nicht nur im Kopf.
Sinn ist eine Lebensweise, eine Lebenspraxis. Sinn scheint auf in den »kleinen Gesten, die die Welt retten«, wie J. L. Borges sagt, in der Menschlichkeit, die wir füreinander entwickeln, in der Liebe zum Lebendigen, im hingegebenen Tun und in dem, was nicht austauschbar und beliebig wiederholbar ist. Wir werden nicht erlöst durch »Google«, aber wir werden mitgenommen auf eine weite Reise durch Eichendorffs Gedichtzeilen: »Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.«
Markt der Sinne
Frühere Zeiten kannten noch die Erfahrung, es sei das Schicksal, das zu Krankheit, Katastrophe, Glück oder Begegnung führt, oder Paare zusammenbringt. Wo die Menschen sich früher wie Kinder fühlten, ausgeliefert an höhere Mächte, da betonen wir heute unseren aktiven, verursachenden Anteil an den Geschehnissen unseres Lebens. Wir fühlen uns als die Autoren unseres Lebens und gestalten unser Lebensskript selbst. Wir haben das Urheberrecht. »Jeder ist seines Glückes Schmied« lautet das Leitmotiv der Gegenwart (Schenk). Die Frage, was lebenswichtig ist und an erster Stelle stehen soll, all das ist zu einer Frage eigener Wahl geworden. Der eine Gott, der einst Zusammenhang und Sinn verbürgte, ist aufgesplittert in viele kleine Hausgötter. In den großen Kirchen lichten sich die Reihen, aber es wächst das Angebot für den »religiösen Hobbykeller« (Safranski). Es gibt nicht mehr den einen großen, übergreifenden Sinn, sondern: viele Sinne. Einen Sinn im Leben müsse man sich schon selbst geben, so lautet auch die Devise in Florian Illies Portrait »Generation Golf«: »Da wir uns alles so zurechtlegen, bis es uns passt, haben wir auch ein flexiblesVerhältnis zur Religion gefunden. Jeder glaubt an das, was er für richtig hält.«
Nur sind die Wege heute kurz geworden. Der religiöse Markt boomt. Parfumanzeigen nehmen religiöses Vokabular in ihr Angebot auf (Amen, Eternity, Angel, Theorema), Modehäuser haben mit Jesus-T-Shirts Erfolg, Pilgerfahrten und Reisen ins »innere Paradies« werden touristisch inszeniert, Kinofilme wie »Der Herr der Ringe« oder »Star Trek« werden zu Kassenschlagern, Musikvideos wie Madonnas »Like a Prayer« präsentieren religiöse Verzückung, und Technogruppen, die Jugendliche ansprechen wollen, setzen auf Titel wie »Vater unser« oder »Ave Maria«. Neue Lokale schmücken sich als religiöse Treffs »Buddha-Bar«, »Zen-Treff«, »Dom«, »Saint«.
Die religiösen Wahrheitsverkünder haben inzwischen die Kränkungen und Relativierungen ertragen gelernt, dass sie auf dem Markt der Sinnangebote als Optionen, Meinungen oder Gesinnungen gehandelt werden. Die Bibel konkurriert heute mit unzähligen esoterischen Schriften und die päpstliche Enzyklika rangiert neben diversen Lebenshilfen, die Erlösung im Selbsthilfeverfahren bieten. Heute gibt es viele Götter, viele Meister, viele Wertorientierungen und zahllose religiöse oder halbreligiöse Sinnausrichtungen.
Als die BILD-Zeitung nach der Wahl Kardinal Ratzingers zum Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche titelte: »Wir sind Papst!«, klang dies wie ein Jubelschrei nach einem grandiosen sportlichen Sieg. Von »Jahrtausendsensation« war die Rede und »wie ganz Deutschland feierte«. Bedeutet es, dass wir wieder eine Religion gebrauchen können? Zumindest lässt sich ein wachsendes Interesse am Thema Religion in der Öffentlichkeit und auf dem Büchermarkt verzeichnen.
Die Trendwende hat ein Datum: Die traumatischen Terroranschläge vom 11. September 2001 förderten einen Befund ins Bewusstsein, der lange verdrängt wurde – nämlich dass Macht und Gewalt eng mit den Religionen verbunden sind. Wer sich auf die Religion beruft, handelt also nicht automatisch gut. Der Glaube kann zwar das Gute stärken, er kann aber ebenso Gewaltpotenziale mobilisieren. Mag es in Zeiten der Verunsicherung, der »Welt-Risikogesellschaft« (Beck) ein wachsendes Bedürfnis nach Orientierung geben, so zeigt sich, dass die Kirchen von diesem Trend nicht profitieren. Dennoch gibt es die schöpferischen, religiösen Kräfte nach wie vor, weil es zu uns Menschen gehört, dass wir uns eingebunden und getröstet fühlen wollen.
Ein tröstliches Bild hierzu verdanke ich dem Frankfurter Philosophen Martin Seel: So wie der Musik etwas
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