Leben macht Sinn
Hungergefühl der Sehnsucht nach Sinn sehr ähnlich ist. Ohne diesen Sinnproviant weiß ein Mensch irgendwann nicht mehr, warum es ihn überhaupt geben soll. Das erlebt er als Sinnverlust. Das sind die Momente, in denen wir andere brauchen, die uns sehen, wie wir wirklich sind. Momente, die unentbehrlich sind, weil sie unser Vertrauen nachladen und den Sinnhunger stillen, damit wir unseren Weg fortsetzen.
Kinder sind mit allen Sinnen lebendiger Sinn. Mit allen Sinnen beginnen sie, sich die Welt einzuverleiben. Sie können sich selbst zwar noch nicht reflektieren, aber sie zeigen uns, wie einfach Sinnhunger gestillt werden kann, obwohl ihnen nur wenige Mittel zur Verfügung stehen. Sie lächeln einladend, strahlen vor Wonne oder schreien fordernd, weil sie die Resonanz ihrer Beschützer brauchen. Weil sie erfahren wollen, dass es sie geben muss. Weil sie ihren Lebenssinn von uns beziehen. In der Vertrauenserfahrung gewolltund geliebt zu sein, erlebt das Kleinkind den ersten Austausch von Sinn und Sinnlichkeit und die Gewissheit, dass es sich auf seine Beschützer verlassen kann, weil es nicht verlassen wird. Schon in dieser frühen Zeit baut sich das auf, was wir Selbstvertrauen nennen: »Ich bin jemand, ich werde geliebt, es ist gut, dass ich da bin.« Aus dieser frühen Wahrnehmung speist sich die Gewissheit, dem Leben gewachsen zu sein und mit der Verlässlichkeit der anderen rechnen zu dürfen. Es sind die nächsten Menschen, auf die das Kind angewiesen ist, die ihm diese Gewissheit geben, die es später auf Spielkameraden, Freunde, auf Spielregeln des Alltags, der Schule und von Institutionen überträgt.
Wenn Enttäuschungen, Versagungen, Unberechenbarkeit und Hilflosigkeit überwiegen, hat das Kind einen schweren Weg vor sich. Es geht mit inneren Wunden auf die Lebensreise. Was Kinder uns nämlich nicht sagen können: Die Unberechenbarkeit ihrer Beschützer bringt sie um Sinngewissheit. Kinder spüren sehr genau, ob ihr Hunger nach Zuwendung nur mechanisch oder liebevoll, verlässlich gestillt wird. Sie spüren dieses »Mehr«, auf das es ankommt, auch wenn sie noch keine Urteile fällen können. Je verlässlicher sie erfahren, dass ihre Erwachsenen da sind, desto lustvoller werden sie hinaus in die Welt gehen können, die Bekanntschaft mit den Dingen, mit der Natur, mit neuen Aussichten und Denksystemen suchen.
Kinder haben ein Bedürfnis nach Sinnerklärungen, man denke an die berühmten Warum-Frageketten. Sie wollen wissen, wozu etwas da ist, was man davon hat oder was man damit anfangen kann. Oft haben es diese harmlosen Fragen »in sich«, denn sie zielen auf den Grund der Dinge und weisen auf umfassendere Zusammenhänge hin. »Können Computer denken?« »Wo war ich, bevor ich geboren wurde?« »Warum gibt es böse Menschen?« Kinder fragennicht nur aus spielerischer Laune, sondern weil ihnen diese Fragen geradezu unter den Nägeln brennen. Wie oft erlebe ich in meiner Praxis, wie Kinder mit Fragen ins Reine kommen wollen, z. B.: »Wo wohnt Gott?«, »Kennt er mich auch?«, und wie groß die Scheu ist, solche Fragen preiszugeben aus Angst, man könne dafür ausgelacht oder für komisch gehalten werden. Häufig mangelt es uns aber auch an Einfühlung und Geduld, auf solche Fragen einzugehen. Oder wir ertappen uns bei einem ungeduldigen »Das erklär’ ich dir später!« »Frag nicht so viel!« »Lass das Grübeln!« Vielleicht sind wir den kindlichen Fragen nicht gewachsen, oder sie erinnern uns an eigene Zweifel und Ängste. Ich glaube, dass Kinder vor allem eines brauchen: dass wir uns mit ihnen zusammen auf die Suche nach eigensinnigen Antworten machen. Das facht die Neugier, die Lust am Wissen und den Appetit auf Sinn an. Jedes Kind überrascht hin und wieder mit tiefernsten Gedanken und verblüffenden Geistesblitzen, z. B.: »Können Blumen glücklich sein?«, »Warum werden böse Menschen so alt?«, »Wie geht es nach dem Tod weiter?« Leider verliert sich ihr originelles Fragen oft mit Eintritt in die Schule. Für die Mehrzahl der Schüler ist die Schule, so schreibt die Sozialwissenschaftlerin Barbara Sichtermann, »ein abschreckender Mischmasch aus Überforderung, Langeweile, Druck und Peinlichkeit.« Der Anpassungsdruck geht vor allem zu Lasten der Kinder, die vom Durchschnitt abweichen. Sie dürfen weder zu phantasievoll, noch zu scheu, noch zu vorlaut, noch zu sensibel, noch zu dick, noch zu unsportlich, noch zu wild, noch zu brav, noch zu eigensinnig etc. sein. Zum Glück gibt es die
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