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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Schüler wieder erkennen und dann auch den Weißen. Fortan achtete ich nur noch auf den Weißen. Der schrieb unaufhörlich. Griff er sich ans Ohr, stockte mir der Atem. Zog sich seine Stirn zusammen bei einem von mir geäußerten Wort, rief ich sofort falsch in die Klasse; wenn er dann erstaunt von seinem Block aufsah, sagte ich, nein, doch richtig. Was er nur die ganze Zeit schrieb? dachte ich unentwegt, er schrieb ja mehr als ich sagte, mehr als die Schüler sagten, er schrieb ein ganzes Buch voll, er hörte gar nicht mehr auf zu schreiben, so viele Fehler, wie er sich notiert, kann man gar nicht machen, dachte ich, vielleicht schrieb er auch andere Sachen auf, meine Haltung, ich drückte die Brust raus, meine Stimme, ich begann zu schreien, meine Schrift, ich malte die einzelnen Buchstaben in exakten Proportionen an die Tafel, ich wäre gern zu ihm hingegangen und hätte ihm über die Schulter geschaut, hätte gesagt, ach so, ja, klar ist das falsch, was ich da gesagt habe, ich habe es gewusst, in dem Moment, als ich es gesagt habe, hab ich schon gewusst, dass es falsch war, ich habe es extra falsch gesagt, nur, um die Schüler zu prüfen, ob sie das falsche Wort erkennen würden. Vielleicht, dachte ich plötzlich, schrieb er auch positive Dinge auf, aber nein, überlegte ich dann, was gibt es an dieser Stunde schon Positives? Kurz vorm Zusammenbruch rettete mich das Klingelzeichen, und auch die Schüler wischten sich den Schweiß von der Stirn. Ich setzte mich, öffnete mit letzter Kraft das Klassenbuch, trug mein Kürzel ein und fragte mich, was überhaupt der Stoff der soeben gehaltenen Stunde gewesen war. Ich wusste es nicht. Ich schrieb: Wiederholung . Dann führte mich der Weiße in ein leeres Klassenzimmer, und ich atmete tief durch, als ich mich ihm gegenüber hinsetzte und auf die Beurteilungsprotokollbögen blickte, die er vor sich auf den Knien hielt. Er hatte zehn von den Bögen voll geschrieben. Ich war auf alles gefasst. Ich dachte, er würde gleich lospoltern, schreien, mir Vorhaltungen machen, mich einen unfähigen, nutzlosen, völlig verfehlten Lehrer schelten, aber nichts dergleichen geschah. In aller Ruhe las er sich das, was er geschrieben hatte, durch, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, nichts. Ich fragte ihn, und? Er reagierte nicht. Noch einmal zehn Minuten, zwanzig Minuten, da sah er plötzlich auf, ich erstarrte, er nahm, langsam, so langsam es ging, seine Brille ab, ich blickte in ein Paar wässrig schimmernde hellblaue Augen, und der Weiße öffnete seine Lippen, er zog jede Silbe genüsslich in die Länge, als er sagte: KON - SE - QUEN - ZEN . Dann stand er auf, drehte sich um und ließ mich allein im Raum zurück. Ich zitterte und fühlte mich schlecht. Ich beschloss, mich für den Rest des Tages krank zu melden, dachte dann aber an Bassels Vertretungsplan und verwarf den Gedanken wieder. Ich ging ins Lehrerzimmer, das einem Schlachtfeld glich. Überall hingen Lehrer, geschlagen, erledigt, über und über von den Kämpfen der Prüfung gezeichnet. Sie wurden von denjenigen, die verschont geblieben waren, versorgt. Auch mich nahm sogleich Hilde Bräunle in Empfang, warf mir eine Decke über und brachte mich auf einen Platz auf dem Sofa, sie reichte mir Tee und rieb mir die Hände, eine grenzenlose Dankbarkeit stieg in mir hoch, Frau Bräunle, sagte ich, mit Tränen in den Augen, das werde ich Ihnen nie vergessen. Auf den Gängen, erzählte man mir, sei das Chaos ausgebrochen. Die geprüften Lehrer waren nicht mehr des Unterrichtens fähig, die unbeaufsichtigten Schüler verließen ihre Klassenräume.
    In dem allgemeinen Durcheinander war ich der Einzige, der nach einer halben Stunde ein leises Klopfen an der Lehrerzimmertür vernahm. Mit wackligen Beinen stemmte ich mich vom Sofa, schleppte mich zur Tür und öffnete. Ein Fünftklässler mit riesigem Tornister stand auf dem Gang. Ich trat zu ihm hinaus. Das hier, sagte er, habe er gefunden. Er wolle es abgeben. Ich sagte nichts, krampfte meine Klaue um den Schlüssel, den er mir reichte, steckte ihn in die Hosentasche, wo er an Stramms Schlüssel klirrte, und strich mir über die Stirn. Ich erinnerte mich an meinen Schwur von heute Morgen, daran, dass ich Höllinger zwei Schlüssel bringen wollte, heute noch, daran, dass dann alles wieder gut wäre, dass er mich von der Liste streichen und ich fortan Höllingers Fraktion verstärken würde. Jetzt hatte ich die beiden Schlüssel. Aber in diesem Augenblick ergriff mich ein

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