Lehrerzimmer
hin. Inzwischen waren auch die Pausenaufsichten zurückgekehrt und von mir in Empfang genommen worden. Ich nahm Gräulich den Hut ab, sagte, es rührt sich keiner von der Stelle, zielte, schoss kurz aufs Telefon, verließ das Lehrerzimmer, schloss die beiden Außentüren zu, steckte die Waffe weg und ging ins Sekretariat. Bassel lehnte gut gelaunt an der Sekretariatstheke und begrüßte mich mit den Worten, Mensch, Kranich, da wird wieder geschossen, üben denn die Oberreferendare schon für die Lehrproben? Ich zückte die Waffe und sagte, nicht dass ich wüsste. Nachdem ich Bassel und den Sekretärinnen ihre Schlüssel abgeknüpft und sie zu dritt in Bassels Büro gesperrt hatte, blieb ich einen Augenblick im Sekretariat stehen. Mein Herz schlug rascher. Zum ersten und einzigen und letzten Mal würde ich nun, heute, an meinem fünften Schultag, das Büro des Direktors betreten, ohne zuvor zu klopfen. Was wollen Sie? fragte Höllinger und sah von seinem Schreibtisch hoch. Die Waffe steckte für ihn unsichtbar in meinem Gürtel. Ich habe Ihren Auftrag erledigt, Höllinger, sagte ich. Was soll das heißen? fragte Höllinger. Schlüssel, sagte ich. Also, Sie haben Schlüssel erbeutet, sagte Höllinger. Mensch, Kranich, Glückwunsch, von wem denn? Von allen, sagte ich und kippte Gräulichs Hut vor ihm aus, sodass über sechzig rostgoldene Schulschlüssel auf seinen Schreibtisch klirrten. Höllingers Gesichtsausdruck übertraf meine Erwartungen. Alle? Das Wort quetschte sich mühsam durch seine Zähne. Wie meinen Sie das, Kranich? Alle, sagte ich. Der Direktor schwieg. Dann aber sagte ich, nein, Höllinger, nicht alle, einer fehlt noch. Und ich zog meinen eigenen Schlüssel aus der Tasche, schloss kurz die Augen und sah Jack Lemmon vor mir, der mit angewidertem Blick den Schlüssel auf den Schreibtisch seines Chefs geworfen hatte, genauso wollte ich schauen, genauso wollte ich den Schlüssel werfen, mit demselben Blick, mit derselben Haltung, mit derselben trockenen Geste des Handgelenks, und schon flog der Schlüssel aus meinen Fingern geradewegs Richtung Schreibtisch, flog durch die Luft und landete klickend auf dem Haufen der übrigen Schlüssel. Höllinger sah mich an. Ihr eigener? fragte er mich, Kranich, ihr eigener? Ich nickte. Sie kündigen? fragte er. Ich nickte wieder, siegesgewiss. Da erhob sich Höllinger, streckte mir die Hand entgegen und sagte, wenn das so sei, wünsche er mir viel Glück auf meinem weiteren Weg. Mit großen Augen reichte ich ihm die Rechte, während Höllinger mit der Linken eine Flasche Sekt aus dem Schrank hinter ihm fischte und sagte: Darauf wollen wir anstoßen, was Kranich? Da riss ich mich los, lief durch die Tür, stürmte die Treppen hinab, und das Letzte, was ich hörte, bevor ich die Schule verließ, war ein Knall.
Epilog
N ur die Johnstraße hinter mir lassen, dachte ich, nur durch dieses Dickicht von Auspuffluft, nur an der Tankstelle vorbei, am Ölgeruch, an den blauen Spiegelfenstern der Bank, nur all das hinter mir lassen. Die Ampel, minutenlang rot, dann kurz grün. Endlich die Brücke, die Unterführung, der Akkordeonspieler. Ich rannte vorbei, zum Schließfach, nahm den Koffer und stieg in den Zug nach Frankfurt, setzte mich ins Raucherabteil, rauchte, streckte meine Füße aus, ließ die Fahrt an mir vorbeiziehen und stieg in Frankfurt aus. Ich wollte schon meinen Stadtplan aus dem Koffer kramen, als ein Mann auf mich zukam, in Rot. Folgen Sie mir, sagte er. Ich folgte ihm. Vor dem Bahnhof hielt eine Limousine, ich stieg hinten ein. Neben mir saß ein weiterer Mann im Anzug, er musterte mich und sagte nichts. Der Wagen fuhr an, und der Mann sah zum Fenster hinaus.
Wohin fahren wir? fragte ich ihn.
In Ihre Wohnung, sagte der Mann.
In meine Wohnung? fragte ich.
In Ihre Wohnung, sagte der Mann.
Wir schwiegen eine Weile.
Die Wohnung, fragte ich ihn, wo liegt sie?
Gleich neben dem Schulhof, sagte er.
Und Sie ? fragte ich, wer sind Sie ?
Ich bin der Mann, der Ihre Beurteilung schreibt.
Impressum
Das ist die E-Book-Ausgabe des im Jahr 2003 im Verlag Schöffling & Co. erschienenen Buchs.
© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH,
Frankfurt am Main 2012
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: Herbert Perl/Voller Ernst
E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten
ISBN 978-3-89561-976-2
www.schoeffling.de
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Kurzbeschreibung
Studienassessor Kranich, Englisch,
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