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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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mitten im Wort das, was man sage, abbrechen, mitten im Satz die Debatte beenden, um den Antrag anzuhören. Es bliebe keine Wahl, man müsse, sei einmal ein Antrag zur Geschäftsordnung eingereicht, diesem Antrag folgen, es sei denn, unmittelbar nach dem ersten Antrag zur Geschäftsordnung stelle ein Kollege einen weiteren Antrag zur Geschäftsordnung, um darüber abzustimmen, ob man den ersten Antrag zur Geschäftsordnung ablehnen solle, was wiederum einen neuen Antrag zur Geschäftsordnung nach sich ziehen könne und so fort. Aber die Lehrer seien meist gottfroh, dass einer von ihnen den sogenannten Abwürgeantrag gestellt habe, ja, seufze man erleichtert, das Ende der Kreisdiskussion sei in Sicht, man stimme gerne ab, Ergebnis: 57 zu 12, die Debatte sei beendet. Der Direktor verschnaufte eine Weile, stand auf und strich ein Staubkorn vom Blatt einer Grünpflanze, trat vor die Galerie der Porträts seiner Vorgänger, als Letztes in der Reihe war sein eigenes Konterfei zu sehen, vor dem er nun stehen blieb und sich, als stünde er vor einem Spiegel, die Haare aus der Stirn strich. Dann setzte er sich wieder und fuhr fort. Die Konferenzen seien nur eine von zahlreichen Lehrerqualen, die vom Oberschulamt in die Wege geleitet worden seien, eine andere seien die sogenannten Besuche, bei welchen Oberschulamtspolizisten dem Unterricht der etablierten Lehrer beiwohnten und immer genau das kritisierten, was sie sähen: Habe der Lehrer eine Gruppenarbeit in die Stunde eingeflochten, fehle der Einsatz der Lehrerpersönlichkeit; folge der Lehrer dagegen dem Prinzip des Frontalunterrichts, so sei die Stunde zu lehrerzentriert. Habe der Lehrer einen Text für die Stunde kopiert, so sei der Text schlecht ausgewählt; stünde der Text im Lehrbuch, so sei er falsch eingesetzt. Nehme man eine Folie, so sei es der falsche Zeitpunkt; verwende man ein Tafelbild, sage man, warum keine Folie? Es gebe kein Entrinnen, sagte der Direktor, sich den Qualen der Bewertung und der Willkür zu entziehen. Und aus diesen Qualen sei mit der Zeit eine Angst erwachsen, inzwischen der wichtigste Pfeiler des Systems, eine Angst, die nun über allem schwebe, sozusagen die Königin der Geißeln, die innere Kraft des gesamten Systems. Er meine nicht nur die Angst der Lehrer vorm Oberschulamt, vorm Direktor, vor den Schülern, vor den Eltern, er meine auch die Angst der Schüler vorm Direktor, vor den Eltern, vor den Lehrern und die Angst des Direktors vor den Eltern und vorm Oberschulamt sowie die Angst des Oberschulamts vor den Ministerialbeamten, die Angst der Ministerialbeamten vorm Kultusminister, die Angst des Kultusministers vorm Ministerpräsidenten und die Angst des Ministerpräsidenten vor den Wählern, vielmehr den möglichen Nichtwählern, also den Eltern, vertreten im Elternbeirat: Die Angst sei der Kitt, der alles zusammenfüge. Die Angst sei den Lehrern mit der Zeit zu einer zweiten Haut geworden, und so habe es eines Ventils bedurft, die Angst habe sich Luft verschafft im endlosen Ausstoßen des sich selbst wiederholenden Jammers, die dritte Säule. Und der oberste Jammersatz: Wie schlecht die Schüler seien! Sie wüssten nicht, wer de Gaulle sei, nicht, was Vichy bedeute, ja, nicht mal, was am 1.9.39 geschehen sei, sie schrieben Hitler mit zwei t, sie wüssten nicht, wie lange der Zweite Weltkrieg gedauert habe, ja, sie wüssten nicht einmal, dass es überhaupt einen Ersten Weltkrieg gegeben habe, man müsse froh sein, wenn sie Krieg überhaupt mit ie schrieben! Und dann die Korrekturen! Da sitze man Wochenende für Wochenende, Englisch Leistungskurs, ein Schüler habe einen Ausdruck hingekritzelt, von dem man genau wisse, dass kein Englischsprachiger ihn je verwenden würde, das sage einem deutlich jeder Funke Sprachgefühl, aber nein, nie könne man sich rein auf das Sprachgefühl verlassen, immer müsse man alle Möglichkeiten ausschließen, und es reiche nicht, im Langenscheidt nachzuschlagen, nein, im Langenscheidt stehe nichts. Vielleicht im Oxford? Nein. Im Collins? Nein. Also müsse man in die Bibliothek nach Stuttgart fahren und im zehnbändigen Harper nachschlagen, da, tatsächlich, da stehe der Ausdruck, den der Schüler verwendet habe, zwar veraltet, aber immerhin, er sei irgendwann einmal von irgendeinem Englisch sprechenden Menschen im 14. Jahrhundert aufgeschrieben worden, und daher könne man dem Schüler keinen Fehler ankreiden, lediglich unterschlängeln dürfe man den Ausdruck. Ich solle mir also gut überlegen, sagte der

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