Lehtolainen, Leena
paar Wochen später hatte ich seine Todesanzeige gelesen. Ich wusste nicht, wie nahe sich Kallio und Ström gestanden hatten, aber ich hoffte, dass sie nach dem Tod des Kollegen ebenso viel Grund hatte, Ari Väätäinen zu hassen, wie ich.
«Wie geht es Sirpa?», fragte sie schließlich.
Die Väätäinens waren gegen Mittag in den Schutzhafen gekommen. Das war eher ungewöhnlich, denn meistens spitzen sich gewaltsame Auseinandersetzungen in den Familien nachts zu, wenn die Schläger ein paar Schnäpse intus haben.
«Sie ist nicht weiter verletzt, bloß zur Hälfte kahl geschoren.
Ari hat ihr die Haare abgeschnitten, damit sie nicht rausgehen und sich anderen Männern zeigen kann.»
«Hör mal, Säde.» Kallio sah mich mit ihren grünen Augen scharf an. «Sirpa ist ein genauso schlimmer Fall wie Irja Ahola.
Oder besser gesagt, Ari Väätäinen ist ein ebenso hoffnungsloser Fall wie Pentti Ahola. Erzähl Sirpa, dass Irja tot ist. Sag ihr, sie soll Anzeige erstatten!»
«Das ist gegen unsere Prinzipien. Der Schutzhafen richtet sich nach den Wünschen der Klientinnen», antwortete ich gewohnheitsmäßig, aber ich merkte, dass meine Worte mich selbst nicht überzeugten.
«Warum brichst du dann vor mir die Schweigepflicht?», fuhr Kallio mich an. «Haltet ihr im Schutzhafen nicht gerade die Familie für wichtig? Denk doch mal an die Kinder! Was wird denn aus denen, wenn ihre Mutter im Grab liegt und der Vater im Ge-fängnis sitzt?»
Ich wusste keine Antwort. Wang begleitete mich nach drau-
ßen und sagte entschuldigend, die Hauptkommissarin hätte einen schweren Tag hinter sich. Ich allerdings auch, und die kommenden Tage würden nicht besser werden. Es tat weh zu beobachten, wie routiniert die Kinder der Väätäinens mit ihrer Mutter ins Frauenhaus kamen. Die neunjährige Marjo kümmerte sich um ihre Brüder, man sah, dass sie es gewohnt war.
Sie zog ein zerknittertes Taschentuch aus der Hosentasche und putzte dem kleinen Bruder mit übertriebener Sorgfalt die Nase.
Ich sah in ihr mich selbst vor fünfundzwanzig Jahren; auch ich hatte meinen kleinen Brüdern immer die Nase geputzt, bevor sie auf den Schulhof gingen, obwohl sich Aimo, Reima und vor allem Tarmo dagegen wehrten.
So war ich mein ganzes Leben lang. Immer hatte ich ein Taschentuch parat, um anderen die Nase zu putzen oder die Trä-
nen abzuwischen. Ich war der kleine Sonnenschein meiner Eltern, für die Volksschullehrerin war ich der Lichtblick in der lärmenden Klasse, ein Sonnenstrahl auch für den Musiklehrer, denn ich war die Einzige in der Klasse, die wusste, wie die Paral-leltonart von As-Dur heißt. Bei Schulfeten brachte ich meine Freundinnen, die eine ganze Flasche Apfelwein getrunken hatten, zum Klo und wischte nachher den Boden auf. Ich wollte das Helfen zu meinem Beruf machen, deshalb studierte ich Sozialpädagogik. Nach fünf Jahren Studium und Magisterexamen landete ich auf dem Sozialamt, wo ich Geld an Leute verteilen durfte, deren Einkommen noch kleiner war als mein miserables Gehalt.
Als das Frauenhaus Schutzhafen gegründet wurde, bewarb ich mich. Ich dachte, da könnte ich mehr erreichen als auf dem Sozialamt, wo ich bloß ein Geldautomat war. Die Arbeit im Frauenhaus war mehr als ein Job, es war eine Lebensweise. Das war mir recht; da ich keine Familie hatte, konnte ich an den Wo-chenenden arbeiten. Meinen Sommerurlaub machte ich erst im Herbst, wenn die Urlaubszwänge der Familien überstanden waren. Ein- oder zweimal die Woche sang ich in einem Chor. Auch da erkannte man meine Bravheit und machte mich zur Noten-verwalterin. Wer hätte sich auch besser dazu geeignet, am Ko-piergerät Frondienste zu leisten oder schüchtern um die Rück-gabe vergessener Notenhefte zu bitten?
Aber jetzt war es genug. Ich betrachtete abwechselnd das Ferkel und mein Cidreglas und beschloss, meine Bravheit abzuwer-fen. Sie hatte mir nur geschadet.
Nach der Vernehmung war ich nicht nach Hause gegangen, sondern mit dem Bus nach Helsinki und mit der Straßenbahn weiter ins Kaivopuisto-Viertel gefahren. Zuerst hatte ich am Meer versucht, meine Beklemmung loszuwerden, aber ständig schoben sich Wolken vor die Sonne, und der kalte Wind drang durch meinen Mantel. Ich lief eine Stunde durch den Park, in der Hoffnung, das Schicksal würde mir die Entscheidung ab-nehmen: Der stürmische Septemberwind würde eine morsche Linde umwerfen, die mich unter sich begrub, oder er würde mich von den Uferklippen ins Meer fegen.
Die Männer meiner Klientinnen
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