Lehtolainen, Leena
allmählich störend, deshalb holte ich meinen Walkman hervor, setzte die Kopfhörer auf und flüchtete mich in die Musik. »Um irgendwas zu schnallen, musst du ziemlich alt sein, musst du dreißig werden, dreißig oder mehr«, sang Luonteri Surf, und ich dachte über meine eigenen Erwachsenensongs nach. Die Sonne forderte mich auf, die Jeansjacke auszuziehen. Es war nicht mehr Frühling, es war Sommer.
Plötzlich stand Pekka an meinem Tisch und sagte:
»He, Mädchen, legst du Wert auf nette Gesellschaft?«
»Ja – also hau ab!«
Wir lachten beide, und unser Kuss war nicht mehr unsicher.
Im Zug trafen wir Kodes Familie und einige flüchtige Bekannte, die wir im Lauf des Abends sicher besser kennenlernen würden. Wir kamen gerade rechtzeitig zum Auftritt der ersten Band. Sie spielte lauten, wüsten Heavy von der Art, die Kaitsu am liebsten mochte. Wir breiteten unsere Decken aus und machten eine Weinflasche auf. Die Menschen waren in Pick-nickstimmung, neben uns fütterte jemand ein Baby, und Pekka schnitt dem Kleinen, das vom Kartoffelmus nicht begeistert schien, lustige Grimassen. Ich erinnerte mich, dass auch Karri immer mit kleinen Kindern herumgealbert hatte. Damals hatte ich gedacht, er würde einen guten Vater abgeben.
Vaters Verschwinden, Ranes und Opas Tod, Karri … Wie leicht war es doch, Gründe für das eigene Unbehagen zu finden, und wie schwer war es, zu akzeptieren, dass nicht alles einen Grund hatte. Am Morgen hatte ich wieder »Pfauenauge« gehört und Hector, dem Liedermacher, in Gedanken gesagt, dass er sich irrte. Es war doch möglich, die Zeit umzukehren, man konnte in die Vergangenheit zurückgehen und sehen, was man irgendwann einmal völlig falsch verstanden hatte. Man konnte seine falschen Vorstellungen korrigieren. Die Zeit war nicht linear, sie war ein dreidimensionales Spinnennetz, in dem man gelegentlich rückwärts lief, seine Fehler wiederholte und neue Chancen bekam, ein Netz, in dem man einen Menschen aus seiner Vergangenheit, der wichtiger gewesen war, als man geahnt hatte, wiederfinden konnte, und in dem einem zurückgegeben wurde, was man verloren hatte.
Erst gestern hatte Karri mir wieder gemailt. Er wollte mit Samuli zur Abiturfeier seiner Nichte kommen und bat mich um ein Treffen. »Glaub ja nicht, dass du mich je wieder loswirst, nachdem ich dich endlich wiedergefunden habe. Ich liebe dich nämlich, Katja.«
»Ich liebe dich auch«, hatte ich geantwortet, und es war weder schmerzhaft noch Selbstbetrug gewesen. Die Liebe, die ich vor zehn Jahren empfunden hatte, hatte lediglich eine neue Gestalt angenommen. Auch Kode liebte ich, denn seine Musik hatte mir über düstere Zeiten hinweggeholfen.
Die nächste Band spielte schmuseweichen Pop. Kodes Frau Sanna, ich und ein paar andere standen auf und tanzten. Sanna hatte ein anziehendes Lächeln, ich war kein bisschen eifersüchtig auf sie.
»Nächstes Jahr spielen wir hier«, brüstete sich Kode. Unser erster Auftritt war für den Frühherbst geplant, bei einem Festival, auf dem ich vor vielen Jahren Salamasota erlebt hatte.
Ich konnte es kaum fassen, dass ich mit Kode Salama und Pekka ausgerechnet auf dieser Bühne stehen würde.
Endlich war die Hauptattraktion des Abends an der Reihe, die Band Tehosekoitin, die Kode als erstaunliches musikalisches Chamäleon charakterisierte. Es war kühl geworden, ich schmiegte mich enger an Pekka. Sanna und Kode, die Bier holen gingen, fragten, ob sie mir eins mitbringen sollten. Doch ich mochte nichts mehr trinken, denn ich wollte eine klare Erinnerung an alles behalten: an die Sonne, die träge hinter dem Waldrand verschwand, an die lächelnden Menschen, an Kode Salama, der mir vom Bierzelt zuwinkte, an die schwankenden Birken hinter der Bühne und an Pekkas Wärme neben mir. Ich wusste, dass ich mich nicht lückenlos erinnern würde. Im Lauf der Jahre würde sich die Erinnerung verändern, einiges würde ganz in Vergessenheit geraten, anderes in den Vordergrund treten oder eine neue Färbung annehmen. Vielleicht bewegte sich am Rand meiner Erinnerung jemand, der mir eines Tages etwas bedeuten würde. Ich lehnte mich an Pekka und schloss die Augen, als Tehosekoitin zum nächsten Song ansetzte. Er hieß
»Alles ist möglich«.
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EINS Katja
ZWEI Veikko
DREI Sara
VIER Katja
F�NF Kaitsu
SECHS Sirkka
SIEBEN Katja
ACHT Veikko
NEUN Sara
ZEHN Katja
ELF Kaitsu
ZW�LF Katja
DREIZEHN Sirkka
VIERZEHN Veikko
F�NFZEHN Katja
SECHZEHN Sara
SIEBZEHN
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