Lehtolainen, Leena
nach draußen. Als ich zurückkam, wurde mir wieder allzu deutlich bewusst, dass ich einer Frau gegenübersaß.
Ihre Haare kringelten sich im Rücken wie ein ausgefasertes Seil.
Es lockte mich, sie in die Hand zu nehmen und zusammenzu-flechten. Ich suchte bei dem Gedanken Zuflucht, dass sie als religiöse Frau vermutlich einen schmucklosen, hautfarbenen Büstenhalter trug, aber selbst diese Vorstellung war erregend.
Trotzdem überstand ich das Interview, ohne mich zum Narren zu machen. Es hatte angefangen zu schneien, und Auli meinte, sie wolle nach Kirkkonummi fahren, bevor die Straßenverhältnisse noch schlechter wurden.
»Darf ich mich melden, wenn ich noch weitere Fragen habe?«, erkundigte sie sich, und ich sagte, sie könne mir eine E-Mail schicken. Daraufhin bat sie mich, die Adresse in ihren Taschen-kalender zu schreiben. Ich musste an die Mädchen denken, denen ich früher meine Telefonnummer gegeben hatte.
Ich begleitete Auli nach draußen und half ihr, das Auto vom Schnee zu befreien, der die Windschutzscheibe verdeckte und auf dem Dach bereits eine Haube gebildet hatte. Zum Glück war es trockener, leichter Schnee, der sich mühelos herunterfegen ließ. Aus einem plötzlichen Impuls heraus wischte ich einen Schneeklumpen von Aulis Mütze. Danach kam es mir idiotisch vor, mich mit Handschlag zu verabschieden, aber für Umarmungen bin ich nicht der Typ. Nachdem Auli abgefahren war, setzte ich mich aufs Sofa und überlegte, wie es gewesen wäre, mit ihr dort zu liegen. Ich befriedigte mich zweimal und kam mir vor wie ein Trottel.
Die erste E-Mail kam schon am Montag. Auli entschuldigte sich für ihre allzu persönlichen Fragen. Ich antwortete ihr, weil ich gerade nichts zu tun hatte. Draußen wehte ein schneidender Südwestwind bei dreiundzwanzig Grad minus, keines der Bücher in meinem Regal interessierte mich, und im Fernsehen lief nur Schwachsinn. Damit begann unsere Korrespondenz.
Als der Einbandentwurf für mein neues Buch eintraf, den ich entsetzlich fand, schrieb ich an Auli. Als der Tierarzt bei Ulla eine Bronchitis feststellte und Antibiotika verordnete, schrieb ich an Auli. Nach Kaitsus Selbstmordversuch öffnete ich meine Mailbox, während ich noch mit Sirkka telefonierte. Beim Skilaufen und Spazierengehen setzte ich in Gedanken E-Mails auf. Dabei wusste ich die ganze Zeit, dass ich es nicht tun sollte.
»Wenn Kaitsu gestorben wäre, hätte ich daran nicht weniger Schuld gehabt als sein Freund, denn ich wusste, was er vorhatte, und habe nichts unternommen, um ihn daran zu hindern.
Wahrscheinlich dachte ich, er wäre kein solcher Feigling wie Rane oder ich oder mein Vater, doch das war ein Irrtum. Hätte ich mir wegen dieser Schuld auch das Leben nehmen müssen, wenn er gestorben wäre?«
»Vielleicht identifiziere ich den Autor zu sehr mit seinen Büchern, aber meiner Meinung nach ist gerade die Schuld das tragende Thema deiner Werke. Neigst du womöglich dazu, die Verantwortung für Taten zu übernehmen, an denen du schuldlos bist?«
»Hör mal, du frommes Kind, ich bin durchaus keine leidende Christusgestalt, sondern ein ganz normaler finnischer Schwächling, der lieber weitergeht, wenn jemand auf der Erde liegt, als stehenzubleiben und womöglich in eine unangenehme Situation zu geraten. Außerdem weißt du ja gar nicht, was ich in meinem Leben getan und unterlassen habe und welche Schuld sich dadurch angestaut hat.«
»Stimmt, das weiß ich nicht. Erzähl es mir!«
»Könntest du es denn verstehen? Hast du es geschafft, dein Leben zu führen, ohne gegen irgendwelche Gebote zu versto-
ßen? Damit wir uns richtig verstehen: Teppichklopfen am Sonntag oder Neid auf die neue Dauerwelle der Nachbarin zählt nicht.«
»Nicht? Wenn ich wirklich an die Zehn Gebote glaube, kann ich mich nicht mit dem Argument über sie hinwegsetzen, andere hielten den Verstoß für unbedeutend.«
Eine teuflische Frau, erschreckend logisch in ihrem Glauben.
Ich dachte viel zu viel an sie. Das lag natürlich nur am Frühling, in dieser Jahreszeit wird der Mensch unruhig, wie alle anderen Tiere auch. Ich hatte wieder mit einem neuen Roman angefangen, denn beim Schreiben spürte ich am deutlichsten, dass ich noch lebte. Der einzige Weg war es allerdings nicht. Wenn ich mich per E-Mail mit Auli unterhielt, war ich dem Leben recht nah.
Kurz vor dem Ersten Mai musste ich nach Helsinki fahren, um mit meiner Lektorin die Lesereise im Herbst und sonstige Lappalien zu besprechen. Bei der Gelegenheit wollte ich
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