Lehtolainen, Leena
auch Kaitsu besuchen. Angeblich waren seine Beine nicht mehr völlig schlaff. Ich wusste nicht, was schlimmer war, eine leise Hoffnung auf ein normales Leben, die sich vielleicht als Illusion erwies, oder überhaupt keine Hoffnung. Wer nicht hofft, der wird auch nicht enttäuscht.
Die Lektorin legte mir einen dichtgedrängten Reiseplan vor, der mich kreuz und quer durch Finnland führen würde: nach Turku, Tampere, Seinäjoki, Oulu und Kuopio. Wenn ich von Oulu nach Kuopio fuhr, lag Iisalmi auf der Strecke, dachte ich, um mich im nächsten Moment darüber zu wundern, dass ich schon Pläne für den Herbst machte. Hoffentlich konnte Clasu sich um Ulla kümmern, solange ich unterwegs war.
Ich schnorrte ein paar Neuerscheinungen für Kaitsu, darunter ein Buch, das als erotischer Roman angepriesen wurde. Sirkkas verschämten Nebensätzen hatte ich entnommen, dass der Junge in dieser Beziehung wiederhergestellt war. Ich hätte nie erwartet, aus dem Mund meiner älteren Schwester jemals das Wort Erektion zu hören.
Seit dem Selbstmordversuch hatte ich noch kein einziges Mal mit Kaitsu gesprochen, nicht einmal am Telefon. Dabei war er für mich fast wie ein eigener Sohn. Ich kaufte ihm als Mitbringsel Geisha-Schokolade, die er als Kind so gern gegessen hatte.
Als ich kam, hielt er sich mit einigen anderen Männern im Tagesraum auf; sie sahen sich ein Video an, auf dem Arnold Schwarzenegger wieder einmal die Welt vor dem Untergang rettete. Beim Anblick des Rollstuhls argwöhnte ich, dass Sirkka die Fortschritte ihres Sohnes übertrieben rosig geschildert hatte.
Ich begrüßte Kaitsu und setzte mich zu ihm vor den Fernseher, denn ich wusste, dass der Film sich dem Ende näherte. In der letzten Szene verabschiedet sich der Terminator von einer Frau mit gut entwickeltem Bizeps und von einem kleinen Jungen und verwandelt sich in einem Akt der Selbstvernichtung in flüssiges Metall. Ich hatte den Film immer gemocht. Diesmal wäre es mir lieber gewesen, die Trauer der Frau und des kleinen Jungen nicht mit anzusehen, doch ich konnte auch nicht einfach aufstehen.
Kaitsu meinte, Geisha-Schokolade möge er noch immer, aber eine richtige Geisha wäre ihm lieber. Er klagte über das schlechte Essen und seine verkümmerten Muskeln. Ich schlug ihm vor, ein Wochenende bei mir zu verbringen, die Kosten für das Inva-Taxi würde ich übernehmen. Der Gedanke schien ihm zu gefallen. Als er sich ins Bett hievte, weil ihm der Rücken wehtat, bot ich ihm keine Hilfe an.
Die Sonne war um das Gebäude herumgewandert, es war dämmerig geworden. Kaitsu knipste die Leselampe an und drehte sich kurz zur Seite. Beim Anblick des vertrauten, scharfen Profils war mir, als starre mich ein Gespenst aus der Vergangenheit an. Dann wandte Kaitsu mir das Gesicht zu, und das Gespenst verschwand. Wir sprachen über dieses und jenes, aber nur über Dinge, die weder wichtig noch ernst waren. Kaitsu redete mir zu, den Führerschein zu machen. Ich versprach, es mir zu überlegen.
Als ich gehen musste, bestand er darauf, mich im Rollstuhl nach draußen zu begleiten. Dort steckte er sich eine Zigarette an.
Ich hatte seit Jahren nicht mehr geraucht, nahm aber, um ihm Gesellschaft zu leisten, auch eine und paffte sie zaghaft wie ein Backfisch. Der Mond kam hervor, um uns zuzuschauen, und lächelte mit halboffenem Mund. Zum Abschied klopfte ich Kaitsu auf die Schulter. Sein Arm reichte mir nur bis zum Hintern, was uns den Anstoß gab, ein paar Schwulenwitze vom Stapel zu lassen. Ich fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln und leichten Sinnes nach Hause. Die Furchen an der Weggabelung zeigten mir, wo ich aussteigen musste. Mein Fahrrad lag neben der Haltestelle bereit. Die Felder von Degerby rochen nach Frühling, und die Amseln zwitscherten. Ulla, die ich draußen in ihrer warm gepolsterten Hundehütte gelassen hatte, begann zu bellen, als ich noch zweihundert Meter zu fahren hatte, und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Sie wusste, dass im Haus Schweinekoteletts lagen. Auch ich hatte Hunger, also briet ich zwei Koteletts für mich und gab dem Hund zwei rohe. Als ich mich ins Bett legen wollte, flüsterte der Neugierteufel mir ein, ich müsse nachsehen, ob inzwischen E-Mails gekommen waren.
Tatsächlich, Auli Hatakka hatte geschrieben.
»Hallo, Veikko! Ich muss übermorgen überraschend an einem Seminar in Helsinki teilnehmen. Es dauert nur bis zum Nachmittag, ich hätte also Zeit für ein Treffen, bevor der Nachtzug nach Iisalmi abfährt. Wie sieht es bei dir
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