Leises Gift
1
Morse rannte durch die Eingangshalle des neuen medizinischen Zentrums der Universität. Sie wirkte wie eine Ärztin, die zu einem Notfall gerufen wurde. Doch Alex war keine Ärztin. Sie war Geisel-Unterhändlerin beim FBI. Zwanzig Minuten zuvor war sie mit einem Flugzeug aus Charlotte, North Carolina, nach Jackson in Mississippi gekommen. Ihre ältere Schwester war bei einem Baseballspiel zusammengebrochen. Was für ein verdammtes Jahr! Es war geprägt von Verletzungen und Tod, und es hing noch mehr Unheil in der Luft – Alex konnte es spüren.
Sie erblickte die Aufzüge und schaute auf die Anzeige über den Türen. Ein Lift kam nach unten. Alex drückte auf den Rufen-Knopf und wippte ungeduldig auf den Fußspitzen. Krankenhäuser, dachte sie bitter. Sie selbst war gerade erst aus einem Krankenhaus entlassen worden. Die Kette der Tragödien hatte ihren Anfang mit ihrem Vater genommen. Fünf Monate zuvor war Jim Morse in genau diesem Hospital gestorben, nachdem er bei einem Überfall niedergeschossen worden war. Zwei Monate später hatte man bei Alex’ Mutter ein Ovarialkarzinom in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert. Die Ärzte rechneten nicht damit, dass sie diese Woche überlebte. Dann hatte Alex den Unfall gehabt, und jetzt Grace …
Ein leiser Gong ertönte, und die Lifttüren glitten auseinander.
Eine junge Frau in weißem Kittel lehnte erschöpft an der Rückwand der Kabine. Eine Assistenzärztin, vermutete Alex, Mitte zwanzig, vier oder fünf Jahre jünger als Alex mit ihren dreißig Jahren. Die Frau blickte kurz auf, als Alex die Kabine betrat, sah zu Boden und schaute Alex dann ganz plötzlich wieder an, als hätte sie erst jetzt den schrecklichen Anblick registriert. Alex hatte diese Reaktion seit ihrer Entstellung so häufig erlebt, dass sie nicht mehr wütend wurde. Es deprimierte sie nur noch.
»Welche Etage?«, fragte die junge Ärztin und hob die Hand zu den Schaltknöpfen, während sie sich alle Mühe gab, nicht zu starren.
»Neurologische Intensivstation«, antwortete Alex.
Die Ärztin drückte auf die 4. »Ich fahre ins Tiefgeschoss«, sagte sie. »Aber der Lift bringt Sie anschließend direkt nach oben.«
Alex nickte und beobachtete die Anzeige auf dem Leuchtpaneel. Nachdem man bei ihrer Mutter Krebs diagnostiziert hatte, war sie mit dem Flugzeug zwischen Washington, D.C., wo sie damals stationiert gewesen war, und Mississippi gependelt, um Grace, die einen Vollzeitjob als Lehrerin hatte, bei der Betreuung ihrer Mutter zu helfen. Anders als beim FBI zu Zeiten eines Edgar J. Hoover, bemühte man sich heutzutage, verständnisvoll an familiäre Probleme heranzugehen. Doch in Alex’ Fall hatte der Deputy Director seine Position unmissverständlich klargemacht: Sonderurlaub zum Besuch eines Begräbnisses war eine Sache, regelmäßiges Pendeln über 1500 Kilometer, um bei einer Chemotherapie dabei zu sein, eine ganz andere. Doch Alex hatte nicht auf ihn gehört. Sie hatte sich gegen das System aufgelehnt und gelernt, fast ohne Schlaf auszukommen. Sie hatte sich geschworen, dem Druck standzuhalten, und sie hatte es geschafft – bis zu dem Augenblick, als ihr ein Feuersturm aus Glas und Schrotkugeln in die rechte Schulter und ins Gesicht gefegt war. Ihre Weste hatte die Schulter geschützt, doch ihr Gesicht war grässlich verstümmelt worden.
Alex hatte die für eine Geisel-Unterhändlerin größte Sünde begangen und beinahe mit dem Leben dafür bezahlt. Weil der Schütze durch eine Flachglas-Abtrennung gefeuert hatte, hatte der Blizzard aus Glassplittern und Schrotkugeln ihre Wange zerfetzt, war durch Haut und Knochen gedrungen und hatte Stirnhöhle, Kiefer und Gewebe zerfetzt.
Die plastischen Chirurgen hatten Alex großartige Versprechungen gemacht, doch bisher waren die Resultate eher kläglich. Man hatte ihr gesagt, dass die wütenden rosafarbenen Würmer mit der Zeit verblassen würden (sie konnten nicht viel tun gegen die punktförmigen Vertiefungen in ihrer Wange), und dass ein Laie die Narben nicht einmal mehr bemerken würde. Alex glaubte nicht daran. Doch was bedeutete schon Eitelkeit im großen Plan der Dinge? Fünf Sekunden, nachdem Alex niedergeschossen worden war, hatte jemand anders für ihren Fehler mit dem Leben bezahlt.
In den höllischen Tagen nach der Schießerei war Alex’ Schwester Grace öfters nach Washington geflogen, um bei Alex zu sein, obwohl die Pflege ihrer beider Mutter sie alle Kraft kostete. Grace war der weibliche Märtyrer der Familie, eine
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