Die neue arabische Welt
VORWORT
Als sich im Frühjahr in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und im Jemen die lang aufgestaute Wut über Regierungsversagen und mangelnde Demokratie in Volksaufständen entlud, da leuchtete plötzlich das Bild einer neuen arabischen Welt am Horizont.
So lange präsentierten sich Arabien im Stillstand wie in einer versiegelten Zeit, so lange schienen die autokratischen Regime unangreifbar trotz eklatanter Missstände und Menschenrechtsverletzungen. Nun, endlich, gingen die Bürger auf die Straße und forderten Freiheit, bürgerliche Rechte und ihren Anteil am Wohlstand, in Ägypten und Tunesien verjagte die Protestbewegung sogar ihre korrupten Herrscher. Die Druckwelle des Wandels breitete sich fast über die ganze Region aus, die von Mauretanien in Westafrika bis in den Oman im Südosten der Arabischen Halbinsel reicht und von Syrien bis in den Sudan.
Arabien kämpft um seine Zukunft. So vieles liegt im Argen: Bei Fortschritt und Entwicklung hinken die Länder der Arabischen Liga mit rund 360 Millionen Einwohnern den anderen Teilen der Welt weit hinterher. Alle 22 arabischen Staaten zusammen schaffen noch nicht einmal das Bruttoinlandsprodukt eines einzelnen europäischen Landes, das von Italien – trotz ihres opulenten Ölreichtums. Rund ein Fünftel der Araber sind Analphabeten, Armut und Arbeitslosigkeit plagen breite Bevölkerungsschichten.
Wie wurde die arabische Welt zu dem, was sie heute ist? Wie kam es dazu, dass das arabisch-islamische Weltimperium, das einst auch Europa mit seinem Wissen und seiner Kultur befruchtete, derart ins Hintertreffen geriet und
zurückfiel? Was ist die Geschichte der arabischen Welt? Dieses Buch schaut zurück in die bewegten Epochen dieser besonderen, fast 3000-jährigen historischen Entwicklung.
Die Geschichte beginnt, lange vor Christi Geburt, im Süden der Arabischen Halbinsel, als dort schon blühende Reiche herrschten und Kamelkarawanen entlang der berühmten Weihrauchstraße die Luxusgüter des Orients ins römische Imperium transportierten. Einem Triumphzug gleich einte der Prophet Mohammed die Araber unter dem Banner des Islam. Ihre Herrschaft erstreckte sich von Spanien bis Pakistan, doch das islamische Imperium scheiterte an Überdehnung und Glaubenskämpfen.
Über Jahrhunderte wurden die Araber nach dem Verfall ihrer Macht dann von fremden Regimen regiert: zunächst von osmanischen Sultanen, dann von christlichen Kolonialherren. Vor allem Briten und Franzosen teilten die arabische Welt unter sich auf; nach dem Ersten Weltkrieg entstand ein Naher Osten am Reißbrett des Westens.
Zwar gelang den arabischen Ländern nach 1945, manchen auch davor, der Sprung in die Unabhängigkeit, doch sie verpassten trotz einiger freiheitlicher Aufbruchbewegungen die Chancen des Neuanfangs. Autoritäre Regime entstanden mit Herrschern, die sich mittels Korruption und brutaler Unterdrückung jahrzehntelang an der Macht hielten. In diesem Buch werden Charismatiker wie der Ägypter Gamal Abd al-Nasser beschrieben, der vom Idol zum Diktator mutierte, Exzentriker wie Muammar al-Gaddafi, aber auch das ausgeklügelte Herrschaftssystem der strenggläubigen saudischen Königsdynastie. Das heikle Verhältnis zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn beleuchtet der israelische Historiker Tom Segev.
SPIEGEL-Korrespondenten haben Ägypten, Marokko und die Golfstaaten bereist und beschreiben in ihren Reportagen
vor dem Hintergrund der Landesgeschichte den Widerstreit von Aufbruch und Stagnation. Alexander Smoltczyk schaute hinter die faszinierende Glitzerwelt von Dubai und Abu Dhabi. Juliane von Mittelstaedt hat im Oman den Realitätsgehalt des Märchens vom guten Sultan untersucht. In Marokko traf Helene Zuber viele junge Aktivisten, die ihrem Monarchen zwar Reformen abringen wollen, aber keineswegs seinen Sturz fordern. Im Libanon, den Autor Erich Follath seit Jahrzehnten kennt, erstickte der hoffnungsvolle Neustart der »Zedernrevolution« von 2005 im innenpolitischen Dauerkampf und im Würgegriff der Hisbollah.
Tatsächlich ist noch lange nicht entschieden, in welchem Maße die Selbstbefreiung der arabischen Welt gelingt. Syriens Präsident Baschar al-Assad hält sich – noch – mit brutaler militärischer Gewalt an der Macht, in Libyen steht das Regime des Muammar al-Gaddafi bei Drucklegung dieses Buches nach monatelanger Rebellion kurz vor dem Zusammenbruch. In Ägypten wiederum macht sich längst Frustration breit, seit auch die Armee, selbsternannter Garant des
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