Leises Gift
sie überragte. »Das ist eindeutig. Ich möchte, dass Sie das Abteil verlassen, Mr. Fennell.«
Bill trat dicht vor die Neurologin, und seine Augen blitzten vor Wut. »Ich weiß nicht, wer Sie zu sein glauben, dass Sie in diesem Ton mit mir reden … oder ob Sie wissen, wen Sie vor sich haben. Ich habe dieser Universität eine Menge Geld gegeben. Sehr viel Geld. Und ich …«
»Zwingen Sie mich nicht, den Sicherheitsdienst zu rufen«, sagte Dr. Andrews leise und nahm den Telefonhörer neben Graces Bett auf.
Bills Gesicht wurde weiß. Alex empfand beinahe Mitleid mit ihm. Die Macht war eindeutig auf die Seite von Dr. Andrews übergewechselt. Trotzdem schien Bill sich nicht zum Gehen durchringen zu können. Er sah aus wie ein Schauspieler auf einem DVD-Spielfilm, nachdem man die Pause-Taste gedrückt hatte, dachte Alex, als der Alarm losging.
»Sie hat einen Anfall!«, rief Dr. Andrews durch die Tür, doch es wäre unnötig gewesen. Die Krankenschwestern kamen bereits aus ihrem Raum gerannt. Alex sprang hastig aus dem Weg, und einen Moment später folgte Bill ihrem Beispiel.
»Herzstillstand«, sagte Dr. Andrews und riss eine Schublade auf.
Weil es eine Intensivstation war, gab es keinen Notfall-Wagen. Alles war bereits vor Ort. In dem zuvor ruhigen Abteil brach von einer Sekunde zur anderen hektische Betriebsamkeit aus, alles mit einem einzigen Ziel – das Leben zu erhalten, das so rasch aus dem Körper im Bett zu weichen drohte.
»Sie müssen nach draußen«, sagte ein massiger Pfleger, der hinter Dr. Andrews stand. »Alle beide.«
Dr. Andrews blickte kurz auf und sah Alex in die Augen; dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Alex wich langsam aus dem Abteil zurück, während sie hilflos zusehen musste, wie sich der letzte Akt im Leben ihrer Schwester abspielte, ohne dass sie etwas tun konnte. Lächerliche Gewissensbisse machten ihr zu schaffen, weil sie sich für ein Jurastudium anstelle einer medizinischen Ausbildung entschieden hatte. Doch was, wenn sie Ärztin geworden wäre? Sie würde dreitausend Kilometer weit von Mississippi entfernt praktizieren, und das Ergebnis wäre das gleiche gewesen. Das Schicksal ihrer Schwester lag in Gottes Händen, und Alex wusste, wie gleichgültig dieser Gott manchmal sein konnte.
Sie wandte sich ab, weg vom Abteil, weg von Bill Fennell, und sah zum Schwesternzimmer, wo Reihen von Monitoren unablässig summten und blinkten. Wie können sie sich nur auf all diese Bildschirme gleichzeitig konzentrieren?, fragte sie sich und rief sich in Erinnerung, wie schwierig es war, mehrere Schirme im Auge zu behalten, wenn das FBI eine Observation mit Überwachungskameras eingerichtet hatte. Während sie darüber nachdachte, hörte sie Dr. Andrews sagen: »Nichts mehr zu machen, Leute. Todeszeitpunkt zweiundzwanzig Uhr neunundzwanzig.«
Schock ist eine eigenartige Sache, dachte Alex. Wie an dem Tag, als sie niedergeschossen worden war. Grober Schrot und ein halbes Pfund Glas waren durch ihre rechte Gesichtshälfte gefetzt, und doch hatte sie nichts gespürt außer einer Hitzewelle, als hätte jemand neben ihr eine Ofenklappe geöffnet.
Todeszeitpunkt zweiundzwanzig Uhr neunundzwanzig.
Irgendetwas in Alex’ Brust begann sich zu lösen, doch bevor es ganz hervorbrechen konnte, hörte sie einen kleinen Jungen fragen: »Ist meine Mom da drin?«
Sie drehte sich zu der großen Holztür um, die den Eingang beschirmte, und sah einen keinen Jungen davor stehen. Er war hochrot im Gesicht, als wäre er die ganze Strecke gerannt, von wo immer er gekommen war. Er gab sich alle Mühe, tapfer dreinzublicken, doch Alex erkannte die Angst in seinen großen grünen Augen.
»Tante Alex?«, fragte Jamie, als er Alex in der Menge der Pfleger und Ärzte entdeckte.
Hinter Alex ertönte Bills dröhnende Stimme. »Hallo, Sohn. Wo ist Tante Jean?«
»Tante Jean ist zu langsam!«, antwortete Jamie zornig.
»Komm her zu mir, Junge.«
Alex drehte sich um und sah in das strenge Gesicht ihres Schwagers, und das, was sich in ihr zu lösen angefangen hatte, brach sich endgültig Bahn. Ohne einen weiteren Gedanken rannte sie zu Jamie, riss ihn zu sich hoch und stürzte durch die Tür nach draußen, weg von diesem herzzerreißenden Albtraum. Weg von seiner gestorbenen Mutter.
Weg von Bill Fennell.
Weg …
2
Fünf Wochen später
Dr. Chris Shepard nahm einen braunen Hefter von dem Aktenhalter an der Tür von Untersuchungszimmer vier und überflog rasch den Inhalt. Er kannte den Namen der Patientin
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