Leonardo und das Geheimnis der Villa Medici
hatte tagelang an dem morschen, auseinanderfallenden und von Maden, Käfern und Spechten
ausgehöhlten Stamm verbracht, um die Tiere zu untersuchen, die diesen Stamm als ihren Lebensraum benutzten.
Jetzt machte er sich gleich daran, den erstbesten Baum
emporzusteigen. Leonardo war ein geschickter Kletterer. Schon
wenig später hatte er ein ganzes Stück an Höhe gewonnen. Er blickte zum Gasthof.
„Und?“, fragte Gianna. „Kannst du was erkennen?“
„Ich sehe den Kopf und die Schultern des Portugiesen“, sagte
Leonardo. „Meine Güte, dass der unter seinen Bart und den langen Haaren nicht erbärmlich schwitzt!“
„Kannst du sehen, was er tut?“
„Nein. Der Tisch wird verdeckt. Ich muss noch etwas höher
hinauf.“
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„Aber sei vorsichtig“, meinte Carlo. „Dieser Baum sieht auch
schon ziemlich morsch aus. Es würde mich nicht wundern, wenn der als nächster einfach umkippt.“
Aber Leonardo ließ sich davon nicht abschrecken. Er kletterte
weiter. Der Ast, der nun sein Gewicht tragen musste, ächzte bereits.
Leonardo warf einen erneuten Blick in Richtung des Fensters. Seine Augen wurden schmal. „Ich kann nicht sehen, was er mit seinen
Händen macht!“, meinte er. „Ich könnte mir denken, dass er schreibt oder malt!“
„Zauberformeln!“, war Gianna überzeugt. „Er bereitet
Hexenrituale vor, die den Satan herbeirufen. Und meine Eltern
kommen in den Kerker, werden hingerichtet und landen
anschließend auch noch in der Hölle!“
„Immer mit der Ruhe!“, erwiderte Carlo.
„Immer mit der Ruhe? Du hast gut reden! Dich wird man ja auch
nicht anklagen, weil du einem Hexer Unterschlupf gewährt hast.
Gestern Abend war der Pfarrer bei uns und der hat sich so seltsam umgeschaut. Ich glaube, der ahnt bereits was.“
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Giannas Redeschwall wurde ein lautes Krachen unterbrochen.
Leonardo hatte sich auf seinem Ast zu weit vorgewagt. Jetzt brach das morsch gewordene Holz. Leonardo schrie.
Im nächsten Moment landete er auf dem Boden.
Die anderen liefen zu ihm hin.
„Ist dir was passiert?“, fragte Carlo.
Gianna räumte das Geäst zur Seite. Leonardo betastete sein
Gesicht. Er hatte dort und an den Oberarmen ein paar Striemen durch kleine Äste abbekommen. Außerdem schmerzte ihn die Schulter. Er verzog das Gesicht. „Es geht so“, murmelte er.
Carlo war plötzlich gar nicht mehr bei der Sache.
Er blickte zum Gasthaus und wirkte für einen Moment wie
gebannt. „Schaut mal!“, flüsterte er.
Der Portugiese stand jetzt am Fenster und blickte hinaus. Er war offenbar durch den Krach auf die Kinder aufmerksam geworden. Mit einem missmutig wirkenden Gesicht ließ er den Blick schweifen und musterte die Drei stirnrunzelnd.
Dann drehte er sich um und machte sich wieder an seine Arbeit –
worin auch immer sie nun eigentlich bestehen mochte.
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„Das ist ja wunderbar unauffällig gewesen“, meinte Gianna, die das Fenster des Portugiesen im Auge behielt und jetzt sehr
angespannt wirkte. Sie flüsterte, so als könnte er sie hören.
„Wahrscheinlich hat er längst begriffen, dass wir es auf ihn
abgesehen haben!“
„Das glaube ich nicht“, sage Leonardo.
„Ach, nein? Und woher nimmst du deine Gewissheit?“
Leonardo zuckte mit den Schultern. „Das ist keine Gewissheit.
Ich vermute es nur. Leider konnte ich nicht sehen, was er gemacht hat – aber dass er sehr konzentriert an etwas arbeitet, steht für mich fest. Und wenn das bei mir so ist, dann merke ich gar nicht mehr, was so um mich herum geschieht…“
Leonardo blickte auf den Boden zu den abgebrochenen Ästen.
Einen davon, der die Form eines Bogens hatte, nahm er vom Boden auf.
„Was willst du damit?“, fragte Carlo. Aber Leonardo beachtete
ihn gar nicht. Er wandte sich an Gianna.
„Was ist im Zimmer neben dem des Portugiesen?“, fragte er.
Dabei erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern blieb einfach nur kühl.
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„Das Zimmer daneben ist frei“, erklärte Gianna. „Übrigens
gehörte das zu den Bedingungen, unter denen sich der Portugiese bei uns einquartierte.“
Carlo mischte sich stirnrunzelnd ein. „Er wollte nicht, dass das Zimmer neben ihm belegt wird? Aber wieso?“
„Weil er offenbar seine Ruhe braucht“, erwiderte Gianna gereizt.
„Er zahlt meinem Vater die doppelte Miete, damit das Zimmer frei bleibt.“
„Das ist doch wunderbar!“, meinte Leonardo.
„Wieso wunderbar?“
„Weil von dort aus herauszufinden wäre, was der Kerl in seinem Zimmer tut!“
„Und wie
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