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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Lumpur oder Tokio glichen. Sie sahen aus wie Termitenhügel, gleichermaßen abschreckend und beeindruckend, und waren groteske Zeugen der Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen, wenn sieben Millionen Einwohner auf einer Fläche von etwas mehr als hundert Quadratkilometern Platz finden müssen. Kaja spürte, wie die Müdigkeit sie übermannte, streifte die Schuhe ab und ließ sich auf das Bett fallen. Das einhundertzwanzig Zentimeter breite Bett nahm fast die gesamte Bodenfläche des Zimmers ein. Skeptisch allen. Obwohl sie in einem Doppelzimmer eines Viersternehotels fragte sie sich, wie sie zwischen diesen Termitenhügeln eine bestimmte Person finden sollte, noch dazu einen Mann, der allem Anschein nach nicht sonderlich daran interessiert war, gefunden zu werden.
    Sie wog einen Moment lang ihre Möglichkeiten ab: die Augen zu schließen oder loszulegen. Dann riss sie sich zusammen und stand wieder auf. Zog ihre Kleider aus und ging unter die Dusche. Anschließend stand sie vor dem Spiegel und stellte ohne Selbstbeweihräucherung fest, dass der Hongkong-Chinese recht hatte: Sie war hübsch. Das war nicht nur ihre Meinung, sondern eine Tatsache, wenn Schönheit denn überhaupt irgendwie messbar war. Das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den rabenschwarzen und markanten, elegant geformten Augenbrauen. Die beinahe kindlich großen, grünen Augen strahlten in der für eine reife, junge Frau typischen Intensität. Das honigbraune Haar und die vollen Lippen ihres breiten Mundes. Der lange, schlanke Hals, der ebenso schlanke Körper mit den kleinen Brüsten, die sich wie sanfte Hügel, wie Wellen auf einer perfekten Meeresoberfläche auf der winterbleichen Haut erhoben. Die sanften Rundungen ihrer Hüften und die langen Beine, die gleich zwei Modelscouts aus Oslo bewogen hatten, sich auf die Reise zu ihr nach Hokksund zu machen, wo sie zur Schule gegangen war, und die ihr Nein nur kopfschüttelnd akzeptiert hatten. Am meisten freute sie jedoch, was einer der Scouts beim Abschied zu ihr gesagt hatte: »Okay, Schätzchen, aber denk dran, du bist keine
perfekte
Schönheit. Deine Zähne sind zu klein und spitz. Du solltest nicht so viel lächeln.«
    Nach diesem Kommentar war ihr das Lächeln leichter gefallen als je zuvor.
    Kaja zog eine khakifarbene Hose und eine dünne Regenjacke an und schwebte schwerelos und still mit dem Aufzug hinunter zur Rezeption.
    »Chungking Mansion?«, fragte der Mann am Empfang und zog eine Augenbraue hoch, als er ihr den Weg erklärte: »Kimberley Road bis zur Nathan Road und dann nach links.«
    Alle Pensionen und Hotels der Interpol-Mitgliedsstaaten waren verpflichtet, ausländische Gäste zu registrieren, doch als Kaja den norwegischen Botschaftssekretär angerufen hatte, um die letzte Adresse zu überprüfen, unter der der Mann, den sie suchte, registriert gewesen war, hatte der Sekretär ihr erklärt, dass das Chungking Mansion weder ein Hotel noch ein
Mansion
im eigentlichen Sinn war. Es handelte sich eher um ein Konglomerat aus Läden, Imbissbuden, Restaurants und einer Vielzahl von gemeldeten und nicht gemeldeten Pensionen, die, auf vier riesige Hochhäuser verteilt, zwischen zwei und zwanzig Zimmer vermieteten. Bei den Zimmern reichte die Bandbreite von sauberen, einfachen Räumen bis hin zu Rattenlöchern und miesen Gefängniszellen. Aber das Wichtigste: Im Chungking Mansion konnte ein Mann, der keine allzu hohen Ansprüche an das Leben hatte, schlafen, essen, wohnen, arbeiten und sich vermehren, ohne jemals den Termitenhügel verlassen zu müssen.
    In der Nathan Road, einer belebten Geschäftsstraße mit Markenboutiquen, glattpolierten Fassaden und hohen Schaufenstern, fand Kaja das Eingangstor des Chungking. Und trat ein.
    In einen Mix aus Gerüchen von Fast-Food-Küchen, den Hammerschlägen der Schuhmacher, dem Singsang der muslimischen Gebete, die aus den Radiolautsprechern schallten, und den müden Blicken der Secondhand-Verkäufer. Sie lächelte einem verwirrten Backpacker mit einem Lonely-Planet-Reiseführer in der Hand zu, dessen weiße, verfrorene Beine in allzu optimistischen Camouflageshorts steckten.
    Ein uniformierter Wachmann warf einen Blick auf den Zettel, den Kaja ihm hinhielt, sagte »Lift C« und zeigte den Korridor hinunter.
    Vor dem Aufzug war der Andrang so groß, dass sie erst beim dritten Mal mitkam, und dann stand sie dicht gedrängt in dem knackenden, ruckelnden Blechkasten und musste daran denken, dass die Zigeuner ihre Toten stehend begruben.
    Der

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