Lesereise Backsteinstaedte
der Giebelfassade die goldenen Jahreszahlen, lockte alle Lübeckbesucher (wie auch heute noch!) an. Unter riesigen Messingkronenleuchtern mit Kerzenlicht trafen sich in der riesigen Diele die welterfahrenen alten Kapitäne, »rapportierten« sie an den langen Holztischen von ihren Abenteuern um Kap Hoorn, schlichteten sie nach dem hansischen Seerecht von 1614 Zwistigkeiten, wurde mit Lübecker Rotspon (aus Frankreich in Holzfässern angelieferter Bordeaux, der in Lübeck zur Flaschenreife gelangt), Bier oder Korn bis in die frühen Morgenstunden Seemannsgarn gesponnen.
Auf Wilhelm Castellis Fotos, darunter auch vom Giebelhaus der Schiffergesellschaft, sind nur selten Menschen zu sehen, was seinen besonderen Respekt vor den Leistungen der Lübecker Baumeister zum Ausdruck bringt. Nur ein einziges Mal wurden damals Arbeiten von ihm in einer Ausstellung gezeigt, 1929, im Jahr des großen Börsenkrachs, im St. Annen-Museum. Hier, im kunsthistorischen Museum der Hansestadt, einem der schönsten in Deutschland, war man gerade dabei, eine Sammlung zeitgenössischer »Lichtbildner« aufzubauen. Die Direktion gewann Castelli als Museumsfotografen. Daraus entwickelte sich eine lebenslange Zusammenarbeit. Als der Siebzigjährige seine Profifotografie an den Nagel hing, erwarb das Museum seinen Nachlass. Die Originalabzüge und Glasnegative aus den Jahren vor 1942 fehlen allerdings. Castellis Drogerie mit dem eigenen Fotolabor und Negativarchiv inmitten der Lübecker Altstadt wurde wie die Kirchen und Giebelhäuser, die er seit den frühen zwanziger Jahren fotografiert hatte, beim britischen Luftangriff zerstört.
Zur Erinnerung an Lübecks Bildchronisten richtete das St. Annen-Museum 2002 eine Retrospektive aus: »Lübeck, schwarz-weiß«. Es waren Bilder aus dem alten Lübeck, dem untergegangenen Lübeck und jenem »modernen«, das man in Bombenlücken gepflanzt hat. Dabei prägten sich uns am Ende vor allem Castellis Fotos von den Lübecker Dielen ein – jenen typisch »lübischen« Orten der Repräsentation, des Handels und des häuslichen Lebens, die schon immer zu den teuersten Juwelen der Stadt zählten. Ursprünglich dienten die Dielen als Warenlager und Arbeitsstätte und beherbergten als Mittelpunkt des Hauses Küche und Herd. Später verzauberte man den über zwei Geschosse reichenden hohen großzügigen Raum mit barocker Treppe und umlaufender Galerie in Dielen für Empfänge, für Feiern, für Festessen.
Im Winter 2008 hatten Archäologen der Kieler Universität in der Lübecker Altstadt über eintausendsechshundert Wandmalereien und Deckenfresken in Giebelhäusern freigelegt: Ornamente, Blumengirlanden, Heiligenbilder, biblische Szenen, Landschaftsdarstellungen mit Motiven aus der Mythologie. Die ältesten datierten sie auf das Jahr 1250, die jüngsten auf die Zeit um 1800. Sie wurden überputzt, übermalt, übertapeziert. Die Funde gelten als die größten ihrer Art in Europa. Und es gibt in den Lübecker Giebelhäusern noch viel mehr, sind sich die Forscher und Denkmalpfleger gewiss. Wilhelm Castelli wäre genau der Richtige, um diese Kunstschätze zu dokumentieren.
Edle Tropfen zum Butt
Nur beim Lübecker Nachbarn von Günter Grass
Am Anfang war der Wein. Strohgelb. Duftend nach zartem Wiesengras. Würzig im Geschmack. Ein Verdicchio dei Castelli di Jesi, ausgebaut von Mario und Giorgio Brunori. Das feine Weingut von Vater und Sohn gilt als beste Adresse in der Region, ihr Verdicchio als bester Italiens. Der edle Tropfen wird jung getrunken. Mundet zu Antipasti, zu Schalentieren, zu Fisch. Im Abgang zeigt er eine angenehme Fülle – passend zum Butt. Zum Butt? »Ja«, sagt Kurt Thater, »den habe ich zusammen mit Herrn Grass ausgesucht!« Und fügt kurz und knapp hinzu, als sei es das Normalste der Welt, dass der Literaturnobelpreisträger eines schönen Abends »mit dem Butt« unterm Arm in seiner Weinhandlung stand. Nein, nicht mit dem Roman, der mit dem wunderbaren Satz beginnt: »Ilsebill salzte nach.« Sondern mit einem Etikett, auf dem ein rechtsäugiger Butt zum linken Bildrand schwimmt, darunter in geschwungener Handschrift: »Der Wein zum Butt!« Die beiden Männer hatten sich nämlich eine besondere Edition ausgedacht – anno 2002, als das Grass-Haus in der Glockengießerstraße 21 in der Lübecker Altstadt eröffnet worden war. Man merke sich die Hausnummer, denn um sie kreist jene Geschichte, die Kurt Thater, der wie ein Nordlicht spricht, obwohl er Düsseldorfer ist, gern erzählt. Wobei
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