Lesereise Backsteinstaedte
»gern« leicht übertrieben ist. Der Nachbar von Günter Grass, der um die sechzig sein mag, bevorzugt hanseatisches Understatement, sympathisch und charmant. Und so nähern wir uns während der vorzüglichen Verkostung Schluck für Schluck der Story an, passend zu zwei weiteren edlen Tropfen mit den Etiketten »Langsam trinken« und »Mit Bedacht«, die Günter Grass 2003 in Anspielung auf sein »Tagebuch einer Schnecke« (1972) mit eben diesem Weichtier gezeichnet hat.
1995 war es, als Günter Grass sein Büro von Berlin nach Lübeck verlegte, »wegen Danzig, Thomas Mann und Willy Brandt!«, hatte er erklärt. Außerdem erinnerte ihn die Backsteingotik, die in Lübeck zur Zeit der Hanse ihren Ausgang nahm und sich von dort aus über Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald bis hoch nach Danzig ausgebreitet hat, an die Ziegelarchitektur in seiner Geburtsstadt. Mit siebzehn Jahren musste Grass das bald polnische Gdańsk verlassen. Die meisten seiner Bücher, allen voran die »Danziger Trilogie«, widmete er der untergegangenen Stadt. In der Glockengießerstraße 21 landete er mehr oder weniger durch Zufall. Seinen Wohnsitz hatte Grass damals schon in der Nähe von Lübeck am Behlendorfer See, einem bildhübschen Fleckchen Erde, wo er noch heute zusammen mit seiner Frau Ute lebt. In seinen »Fundsachen für Nichtleser« (1997) gewährt der Wortmaler Einblicke in das schleswig-holsteinische Paradies – »Aquadichte« nennt er seine mit farbigen Pinseln in Aquarelle geschriebenen Zeilen. Und immer schon sind diese voller Anspielungen auf Vergangenes, enthalten aber eben auch »Fundsachen« aus seinem Haus, seinem Garten oder verborgene Leidenschaften: »Meine kleinste Kammer/ will ich mit Gedichten tapezieren …«
Günter Grass suchte 1995 einen Standort für sich in der Stadt. Und so kam es, dass er in jenem Jahr in die Glockengießerstraße 21 einzog, derselben Adresse, wo Kurt Thater seine Weinhandlung betrieb. Die Räumlichkeiten von Grass in dem eher unauffälligen Lübecker Haus lagen hinter der Diele und im oberen Stock, das Wein-Castell war vorn im Parterre untergebracht. Der Dichter und der Weinkenner verstanden sich auf Anhieb sehr gut. Und als Günter Grass 1999 in Stockholm mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, reiste Kurt Thater als persönlich geladener Gast mit – »als Einziger aus Lübeck«! Kurz darauf entschloss sich die Kulturstiftung der Stadt, zu Ehren ihres prominenten Mitbewohners ein Grass-Haus zu gründen. Wo? In der Glockengießerstraße 21! Das bedeutete Umbau, Anbau, Mauerdurchbrüche und sonstigen Tumult. Günter Grass machte zur Bedingung, dass er dem nur zustimmen werde, wenn Thaters Weinhandlung bleibe. Nach dem üblichen Hin und Her, das solche Projekte begleitet, waren 2001 die Würfel gefallen. Auf Kosten der Stadt zog Kurt Thater in die leer stehenden Geschäftsräume in die Glockengießerstraße 19 nebenan und richtete dort »seitenverkehrt« sein Wein-Castell neu ein. Um ein Haar hätte er auch sein Weinlager im Keller der Glockengießerstraße 21 räumen müssen. Wie so oft zur Mittagsstunde, trank Günter Grass bei ihm mal wieder einen portugiesischen Wein, als er meinte, »Herr Thater, der Keller gehört aber mir!« Kurt Thater zuckte kurz zusammen, »Herr Grass!« Und gab höflich zu bedenken, dass jenes feuchte Gewölbe aus dem 12. Jahrhundert zur Aufbewahrung seiner Zeichnungen nicht wirklich geeignet sei. »Gut, dann behalten Sie meinen Keller! Dafür darf ich bei Ihnen Pfeife rauchen!« Ein Superdeal. Und so durchweht zuweilen eine leichte Tabaksbrise das Wein-Castell, wo ansonsten absolutes Rauchverbot herrscht.
Pünktlich zur Eröffnung des Günter-Grass-Hauses im Herbst 2002 feierten Grass und Thater ihre erste gemeinsame Edition mit besagtem Verdicchio »zum Butt« und als Pendant einem eleganten Barbera del Monferrato aus dem Piemont, für den Günter Grass das Etikett »Der Butt will schwimmen!« schuf.
Jahr für Jahr kommt seitdem eine neue Grass-Edition mit jeweils zwei Weinen, einem weißen und einem roten, bei Kurt Thater heraus – wie immer zusammen mit Günter Grass ausgesucht, die meisten aus den Marken, Sizilien oder dem Friaul, aber auch Weine aus Spanien, Frankreich und Portugal. Die kunstvollen wie auch inhaltlich starken Flaschen gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Nur in Lübeck bei Kurt Thater im Wein-Castell. Aus ganz Deutschland, aber auch aus Holland oder Belgien werden die Editionen bestellt, zum Beispiel von Galerien, die zu
Weitere Kostenlose Bücher