Lesereise - Inseln des Nordens
Expedition »Thulefahrt«, aber bis die erste Frau zum Nordpol lief, sollte es lange dauern, erst 1986 gelang das Ann Bancroft.
»Kommt gar nicht in Frage« – der Leiter des deutschen Polarforschungszentrums in Bremerhaven lehnte rigoros ab, als Ende der achtziger Jahre (des 20. Jahrhunderts!) Wissenschaftlerinnen ein Jahr auf der Georg-von-Neumayer-Station in der Antarktis überwintern wollten. »Aber Sie können ja ein Frauenteam zusammenstellen«, fügte er an. Vielleicht hatte er nicht mit dem Ehrgeiz der Frauen gerechnet; im März 1990 stehen neun Frauen an der Schelfeiskante und winken dem »Polarstern« zu, der Eisbrecher dreht ab, die Frauen bleiben allein zurück, in der Antarktis, einem Plätzchen so unwirtlich, dass Grönland dagegen wie die Toskana wirkt.
Einige Jahre später hocken zusammen mit sechs Männern wieder drei Frauen in den Röhren im Gletschereis der Antarktis: die Chemikerin Andrea Wille, die Meteorologin Heidi Schmid sowie die Köchin und Krankenschwester Tina Wöckener. In ihrer Freizeit sitzt Heidi Schmid in ihrem Zimmer und hört Musik oder bastelt an einer Patchworkdecke. Angst hatte sie nie, doch wenn es draußen stark driftet »bin ich froh, wenn mich jemand zur fünfhundert Meter entfernten Ballonfüllhalle begleitet, wo meine Wetterballone starten«, erzählte sie mir per E-Mail. Was vermisst sie? »Frisches Obst, den Starnberger See und die Alpen.« Die Köchin Tina Wöckener sah das pragmatischer: »Was ich vermisse? Ein gut gezapftes Bier in meiner Stammkneipe ›Sir Winston Pub‹ in Lübeck!«
Fünf britische Frauen, die nach einem Eintausendeinhundert-Kilometer-Marsch am Südpol standen, sind die erste Frauenexpedition, die beide Pole zu Fuß erreicht hat. Die Britinnen erreichten drei Jahre zuvor mit weiteren zwanzig Frauen den Nordpol. Während ihres Marsches zogen sie sämtliche Lebensmittel und ihre gesamte Ausrüstung auf Schlitten. Diese wogen mit hundertfünfunddreißig Kilo jeweils das Doppelte ihres Körpergewichts.
»Emotional landscape« singt Björk mit Eisesstimme. Fräulein Guðmundsdóttir ist der bekannteste Export Islands, ihre Wurzeln liegen in einer explosiven Zone, unterm Eis, auf dem Vulkan. Über ihre Heimat sagte Björk in einem Interview: »Es war stockdunkel. Nordlichter flirrten über eine dicke Wolkenschicht. Unten knirschten die Lavafelder. Das war wirklich Techno.« Eine Schwester im Geiste ist Hansine Jensdóttir, Goldschmiedin in Reykjavík. Sie arbeitet am liebsten mit Stahl und Silber, verwendet nur isländische Steine. Aber Hansine poliert die Steine nicht, »die Landschaft Islands ist ja auch nicht poliert«. Sie war auch mal im Ausland, in Calgary, das liegt ja auch nicht gerade im Süden. »Nein nein, von der Hitze werde ich so müde. Kreativ bin ich nur im Norden.«
Elke Meissner lebt als Reiseveranstalterin schon seit über zwanzig Jahren in Grönland – und wurde 1998 deutsche Ehrenkonsulin. Sie fährt mit Hunden und begleitet Schlittengruppen. »Am liebsten würde ich immer in Grönland bleiben. Ein Leben anderswo kann ich mir schwer vorstellen, eine ernsthafte Krankheit hier allerdings auch nicht …«
Für uns Südeuropäer ist das Leben im Eis ein Abenteuer, doch viele, die dort leben, wollen nichts wie weg. In Ammassalik freundete ich mich mit der achtzehnjährigen Christiane an. Was die Inuit-Frau erzählte, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Als sie sechs war, kam sie ins Kinderheim, weil die Eltern soffen. Mit dreizehn war sie das erste Mal schwanger. Ihre fünfzehnjährige Schwester Ana hörte oft stundenlang eine Kassette, auf der ein trauriges Lied eine Endlosschleife zieht. Sie dachte an ihren Bruder, der sich umgebracht hatte. In einer hellen Nacht ging ich mit den Schwestern spazieren. Halb vier Uhr, Nordlicht, in der Bucht glänzten die Flanken eines Eisbergs, ein Caspar-David-Friedrich-Bild, zum Malen schön. Aber Christiane sagte: »Ich bin’s so leid, all das die ganze Zeit zu sehen.«
Die Schweizerin Andrea Kippe hingegen konnte nicht genug davon bekommen. Sie ging als Tourenguide nach Spitzbergen. Als Kind hatte sie Abenteuergeschichten verschlungen, sie wollte so viel lernen, »dass man mich alleine mit einem Taschenmesser im Wald aussetzen könnte und ich in der Lage wäre, zu überleben«. Die schönste Erfahrung sei der freie Kopf gewesen, weil es in der Wildnis keine zivilisationsbedingten Ablenkungen gebe. Interessant war für sie, dass ihr auf Svalbard das Bedürfnis, Musik zu hören, für lange
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