Lesereise - Inseln des Nordens
er begrüßt und muss Hände schütteln. Man spricht ihn mit dem Vornamen an – das macht man so auf den Inseln. Selbst den Ministerpräsidenten nennt niemand »Herr Johannesen«. Er heißt einfach Kaj Leo. Eysturoys Nachnamen zu erwähnen ist aber für den Fortgang der Geschichte wichtig: Er ist nämlich identisch mit dem Namen der zweitgrößten färöischen Insel, mein Ziel des nächsten Tages. »Viele Menschen tragen hier als Nachnamen den Namen eines Dorfes oder einer Insel«, sagt Eysturoy.
Als Beispiel dafür nennt er Sámal Joensen Mykines, den berühmtesten Maler des Landes. Die meisten Besucher der Inseln werden ihn dennoch nicht kennen – für sie ist Mykines lediglich eine kleine Insel ganz im Westen der Färöer. Sie gehört zu den Lieblingszielen der Touristen – zumindest im Sommer, wenn sie problemlos mit dem Ausflugsschiff zu erreichen ist und hier Hunderttausende Vögel ihre Nester gebaut haben. Der Kleinste unter den Piepmätzen ist der Liebling der meisten Besucher: Der nur dreißig Zentimeter große Papageientaucher kennt so gar keine Scheu und bietet Fotografen mit seinem bunten Schnabel ein ausgezeichnetes Motiv. Als wollte er den menschlichen Beobachtern stolz seinen Fang präsentieren, zeigt er sich gerne mit eine paar Fischen im Schnabel. Wie er es schafft, gleich mehrere Fische hintereinander zu fangen, ohne die zuvor gemachte Beute wieder zu verlieren, ist ein Rätsel, das Ornithologen bisher noch nicht lösen konnten. Mykines ist aber nicht nur für Vogelkundler, sondern auch für Wanderer ein Paradies. Der höchste Berg der Insel ist zwar nur fünfhundertsechzig Meter hoch, doch der drei Kilometer lange Aufstieg bringt auch geübte Wanderer ins Schwitzen. Wem die Bergbesteigung zu anstrengend ist, der spaziert hinaus nach Mykineshólmur, einem winzigen Eiland vor der Westspitze von Mykines. Eine fünfunddreißig Meter lange Brücke verbindet die beiden Inseln über eine spektakuläre Felsspalte hinweg.
Die Ortschaft Gjógv auf der Insel Eysturoy kann es mit Mykines durchaus aufnehmen. Man erreicht sie über Passstraßen, die erst hoch hinauf über die Berge und dann wieder hinab zum Meer führen. Von den Ausblicken zu schwärmen, die sich auf dieser Tour auftun, hieße das Normale in den Stand des Besonderen zu erheben. Denn Ausblicke hinab aufs raue Meer, hinüber zu steilen Berghängen und über baumlose Weiten, zu kleinen Fischerdörfern mit ihren bunten Holzhäusern oder auf spektakuläre Felsformationen, die sich wie in einer Traumwelt aus den tosenden Wellen erheben, bietet die Insel überall. Gjógv ist wegen etwas anderem bekannt: einer markanten Felsspalte, die hier einen engen und schwer zugänglichen Naturhafen bildet. John, der früher selbst als Fischer gearbeitet hat, erklärt, wie schwer es einst für die Ruderer war, hier mit ihren Fängen an Land zu gehen. »Die sind jeden Morgen mit einem Kirchenlied auf den Lippen hinausgefahren und singend am Abend zurückgekehrt – dem Heiland dafür dankend, dass er sie mit reichen Fängen belohnt und sie sicher in den Hafen zurückgeführt hat«, erzählt John. Doch an manchen Tagen blieben die Gesänge aus – wenn ein Vater, Ehemann oder Sohn vom Fischfang nicht mehr zurückkehrte.
Zusammen mit John steige ich einen Wanderpfad entlang der Felsspalte den Berg hinauf – wieder dasselbe grandiose Programm: Vögel, fantastische Ausblicke und der Wind, der an den Haaren zerrt. Immer dasselbe und doch immer wieder neu und ergreifend. Dass es einem auf den Färöern nie langweilig wird, dafür sorgt schon allein das Licht, das sich fortlaufend ändert. Wer täglich auf derselben Strecke über die Inseln fährt, unternimmt doch Tag für Tag eine andere Reise. Sonne, Regen, Wolken, Hagel, Schnee, Nebel – die Färöer bieten alles in kurzer Abfolge.
Durch einen über sechs Kilometer langen unterseeischen Mauttunnel geht die Fahrt weiter nach Klaksvík, der zweitgrößten Stadt der Inselgruppe. Etwa viertausend Menschen leben hier. Für färöischen Standard ist Klaksvík damit eine Metropole mit fast unerträglicher Hektik. Nachdem ich einige Tage auf den Färöern verbracht habe, kann ich die Einheimischen verstehen. Auch ich kürze meinen Aufenthalt in der Stadt ab, will hinaus in die Natur und mache einen Abstecher auf die Insel Kunoy, die wegen ihrer spektakulären Sonnenuntergänge das ideale Ausflugsziel für Romantiker ist – das jedenfalls erzählt man, denn mir bleibt hier die Sonne versagt. Doch schon auf der
Weitere Kostenlose Bücher