Lesereise - Inseln des Nordens
Zeit völlig abhanden kam – »man könnte seine Ohren ja für (überlebens)-wichtigere Wahrnehmungen benötigen«.
Die Journalistin Sabine Barth war dreiundzwanzig Mal in Island und acht Mal in Grönland, sie stellte fest, dass es Frauen leichter falle, mieses Wetter auszuhalten. »Frauen sind ausdauernder. Dennoch reise ich gern mit einem Mann – er kann mehr tragen als ich.« Interessant sei die Leidenschaft der Männer, wie sie sich in der Literatur darstellt. »Männer vergleichen den Norden, das Eis, das Nordlicht mit einer Geliebten. Amundsen sprach sogar von Todessehnsucht.« Die literarischen Eisfrauen seien dagegen »die Kundigen oder zumindest Lernbereiten und letztlich Überlebensfähigen«.
Was war das Schönste?, habe ich die Eisfrauen gefragt, und schließlich auch mich. Das war das Schönste: Einmal schnallte ich mir Tourenski an und lief hinaus auf das zugefrorene Meer. In einer Bucht setzte ich mich auf einen Felsblock, die Sonne gleißte, ein Einheimischer zog mit seinem Hundeschlittengespann vorbei und sah mich nicht, der kalte, harte Schnee stob auf. Und ich wusste: Wenn ich nun einfach weiterlief, den Nachmittag und die Nacht, dann würde ich nicht überleben. Es war ein wundervoller Tag, aber bald würde es bitterkalt werden, minus zehn, minus zwanzig, wer weiß. Und dieser Gedanke war ungemein faszinierend, nie zuvor hatte ich mich so stark gefühlt, hier sitzen zu können, dies zu überlegen und dann umzudrehen, zurückzugleiten in den Ort. Ich hatte keinerlei Todessehnsucht, ich war nur glücklich.
B. S.
Kathedralen auf dem Meer
Eisberge und heiße Quellen
Manche Orte vergisst man nicht. Meist sind dies Orte, an denen man etwas Wunderbares das erste Mal erlebt hat. Jeder erinnert sich daran, wo er das erste Mal geküsst wurde, und jeder weiß, wo er seine Liebste getroffen hat. Ein solcher Ort des wunderbaren ersten Mals ist für mich Qaqortoq im Süden Grönlands. Dreitausend Leute leben hier, es gibt ein Gymnasium, eine Handelsschule und eine Fabrik, in der Pelzkleidung hergestellt wird. Außerdem steht mitten in dem Städtchen der älteste Springbrunnen des Landes. Deswegen kommen aber sicherlich keine Touristen hierher – selbst Springbrunnenfreunde nicht. Und trotz seiner bunten Häuschen, die sich an einen Hügel klammern, und entgegen der Aussage des grönländischen Fremdenverkehrsamts, nach der er einer der bezauberndsten Orte des Landes sein soll, ist Qaqortoq keine Schönheit. Doch nach Grönland reist man auch nicht zum Städteurlaub, sondern wegen der großartigen Natur. Darum bin ich schon bald mit dem Boot nach Uunartoq unterwegs. Uunartoq wiederum ist eine Insel, etwa zwei Bootsstunden von Qaqortoq entfernt. Auf ihr sprudeln heiße Quellen, die einen Pool speisen, der bis zu siebenunddreißig Grad warm ist. Keine schlechte Sache im kalten Grönland und ein lohnendes Ziel für einen Tagesausflug. Schon die Wikinger kannten diese natürliche Badewanne, und sogar alte Sagas erwähnen die Stelle.
Eigentlich ist der grönländische Sommer schon vorbei, als ich aufs Boot steige, doch dieser Septembertag ist warm, sonnig und klar. Der ideale Tag für eine besondere Begegnung. Das Boot dieselt vor sich hin, und meine Kamera arbeitet auf Hochtouren: Schneebedeckte Berge am Ufer und grüne Wiesen davor, ein Fjord hier, eine Landspitze da und alles mit dem perfekten Blau des Himmels im Hintergrund.
Und dann sehe ich sie. Ganz weit draußen auf dem Meer. Weit weg und doch riesig. Zwei schwimmende Kathedralen, die je nach Sonneneinstrahlung ihre Farbe verändern. Blau, weiß, grün und dann wieder blau. Vor lauter Begeisterung vergesse ich zu fotografieren. Unwirklich sehen sie aus, wie Gäste aus einer anderen Welt. Immer noch fährt das Boot an hohen Bergen und grünen Wiesen vorbei, doch ich habe nur noch Augen für die beiden Eisberge. Als ich wenig später in der Quelle liege, sehe ich sie immer noch am Horizont. In solchen Augenblicken ist die Welt perfekt. Ich sitze planschend im warmen Wasser, die grönländische Sonne scheint auf mich herab, ich halte einen Flasche Bier in der Hand – Gott sei Dank hatte ich vor der Abfahrt an die richtige Proviantierung gedacht – und draußen ziehen die Eisberge vorbei.
Später auf einer anderen Ausfahrt weiter im Norden werde ich noch viele Eisberge sehen. Dort wird das Boot richtig knapp an ihnen vorbeifahren. Der Skipper wird mit dem Pickel ein paar große Eiswürfel aus dem Eisberg herausschlagen, sie zerkleinern und damit
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