Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
dessen wechselnde Beinamen und Titel von »William dem Bastard« über den »Herzog der Normandie« bis zu »William dem Eroberer« und König von England eine ansehnliche Karriere spiegeln. Edward der Bekenner hatte William in Ermangelung eines Erben als Thronfolger eingesetzt. Der aber wurde von seinem Weggenossen Harold ausgebootet, der sich nach Edwards Tod zum König von England krönen ließ. Flugs begann William mit dem Bau einer Flotte und setzte über den Kanal. Dort machte er dem treulosen Harold den Garaus und trug bei der entscheidenden Schlacht in Hastings am 14. Oktober 1066 den Sieg gegen die Angelsachsen davon.
Fortan hatte England einen französischen König, bald auch eine französische Aristokratie und Oberschicht, die die angelsächsische Gesellschaft nachhaltig prägen sollten. Es sollte indessen nicht das letzte Gefecht zwischen den Nachbarn bleiben. Während des Hundertjährigen Krieges, im Jahr 1420, wurde die Normandie mit dem Fall von Rouen englisches Herrschaftsgebiet. Doch davon ahnten die Nonnen oder Mönche noch nichts, als sie in Canterbury arbeiteten. Friedlich saßen sie beieinander, schmuggelten hier eine kleine Szene aus dem bäuerlichen Alltag in die Tapisserie ein und stickten dort, in Episode fünfzehn, gar ein männliches Geschlechtsorgan in den künftigen Kirchenschmuck von Bayeux.
Heute sind auch Amerikaner in den Straßen der Altstadt von Bayeux unterwegs. Das liegt an den nahen Invasionsstränden. Sie wohnen gerne im familiären Hôtel Lion d’Or, wo schon Spencer Tracy und später Tom Hanks anlässlich filmischer Aufarbeitung des Weltkriegs logierten, und schwärmen von dort aus. Im nahen Port-en-Bessin türmen sich auf dem Fischmarkt Schalentiere und Jakobsmuscheln, Boote liegen im ebbetrockenen Hafen. Ein Pfad führt die sechzig Meter hohe Steilküste hinauf. Von den Fensterbänken kleiner Häuser aus Feldstein ergießen sich Blumenfluten.
Arromanches-les-Bains liegt am »Gold Beach«, einem der drei Strände, an denen die Briten landeten. Touristen schlendern vom Musée du Débarquement am Hafen zu den Geschäften gegenüber, wo Spielzeugpanzer verkauft werden und »D-Day-Wein«. In der Landschaft haben die Schlachten keine Schatten hinterlassen. Nur bei Ebbe, wenn das Meer riesige Sandstrände freigibt, werden die Fundamente des schwimmenden Hafens »Mulberry« sichtbar, den die Alliierten nach der Landung im Juni 1944 im Meer errichteten.
Auf dem Weg nach Saint-Vaast-la-Hougue, einem vom Baumeister des Sonnenkönigs Ludwig XIV . befestigten Hafenstädtchens, geht das schöne Wetter verloren. Unversöhnlich prasselt der Regen an die Fenster des Café au Port, wo an diesem trüben Sonntagmittag Berge von Miesmuscheln aufgetragen werden. Hafen, Austernbänke und die bei Ebbe in Fußweite vor der Küste liegende Insel Tatihou versinken hinter Regenschleiern. Das kann den ganzen Tag so gehen, sagt die Kellnerin, oder die ganze Woche. Der Einzelhandel stellt rasch Ständer mit Regenjacken vor die Türen. Die Menschen beschäftigen sich mit Einkäufen und unzeitigem Weinkonsum. Dann reißt der Himmel auf, und am Ende des Hafenbeckens erscheint ein graues Kapellchen.
Dort gedenkt Saint-Vaast seiner Verluste. Die Fischerei ist noch immer ein Beruf, der das Leben kosten kann. Tafeln erinnern an Patrick, der 1999 im Alter von siebenundzwanzig Jahren von Bord der »Liberté« ins Meer verschwand. Maurice ging im Jahr 2001 mit der »Silence II« unter. Jede Plakette erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der nicht vom Meer zurückkam. Nur eine Kinderzeichnung »für die toten Seeleute« zeigt einen glücklichen Matrosen im Sonnenschein.
Unterdessen ist das gute Wetter nach Saint-Vaast zurückgekehrt. Möwen schreien, das Dorf blickt auf die einlaufende Flut, die friedlicher aussieht, als es die Geschichten der Kapelle vermuten lassen. Tatihou ist aus dem Dunst aufgetaucht und wird wieder zur Insel. Unter lautem Getöse flitzt ein gezeitenunabhängiges Fortbewegungsmittel – halb Boot, halb Rennbagger – hinüber. Von 1723 bis 1860 wurden Pestkranke auf Tatihou interniert, die nach vierzig Tagen der Quarantäne beerdigt waren oder entlassen wurden.
Seit 1992 ist die Insel Touristen zugänglich. Sie ist schnell besichtigt: ein Befestigungsturm, ein Museum für Schiffswracks, ein Gästehaus für Schulen, wo früher das Pestlazarett war, ein botanischer Garten, liebevoll gepflegt von Gärtner Henri, Schafe und zweihundert Vogelarten, die gehörigen Lärm machen. Das
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