Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
hinterm Dünenkamm die Verarbeitungsanlage.
Austernbauern sind immer in Eile. Extreme Gezeitenunterschiede – bei Ebbe weicht das Meer hier sechs Kilometer zurück – sorgen zwar für die besondere Frische der normannischen Austern. Aber sie diktieren auch einen strengen Zeitplan. Bei Ebbe sind die Austern geschlossen. Dann kann man auf den Bänken arbeiten. Wenn das Meer zurückflutet, öffnen sie sich, um Nahrung aufzunehmen. Pro Hektar, auf dem etwa sechstausend Säcke liegen, filtern Austern täglich eine Milliarde Liter Wasser. Außer Pflege und Verarbeitung spielt die Wasserqualität die größte Rolle beim Geschmack.
Dass das Meer hier recht sauber ist, ist außer den Gezeiten auch den wütenden Stürmen zu verdanken, die in Herbst und Winter an der Küste der Normandie toben. Sie haben nicht nur den Geschmack der Austern, sondern auch die Landschaft geprägt: niedrige Häuser und Kirchen mit kurzen, dicken Türmen kauern sich zwischen Hügel. Vielerorts sind sogar die Dächer aus Stein, damit sie nicht davongewirbelt werden.
Jean François Mauger bekommt häufig Besuch von Urlaubern, die in den Restaurants der normannischen Küste eine akute Austernsucht entwickelt haben oder eine chronische ausleben. Er zückt ein Taschenmesser, öffnet ein paar Austern und reicht sie den Besuchern – ohne Zitrone, ohne Soße. Sie schmecken, wie sie riechen: nach dem Meer ohne Fisch. Nur Frische.
Drei bis vier Jahre dauert es, bis eine Auster auf dem Teller eines Fischrestaurants landet. Zuvor haben die Austernfarmer in den Küstenorten Blainville-sur-Mer an der Westküste sowie Asnelles und Isigny-sur-Mer bei Bayeux und Saint-Vaast-la-Hougue im Norden sie bis zu zwanzig Mal aus dem Wasser geholt, gereinigt und sortiert und zurück auf die Austernbänke vor der Küste gebracht. Die vier berühmten Austerndörfer sind ideale Eckpfeiler einer Reise durch die Normandie. Kenner vermögen sogar geschmackliche Unterschiede zwischen den Austern wahrzunehmen, die die einzelnen Orte hervorbringen: nussig schmecken die Austern aus Saint-Vaast-la-Hougue, besonders mild sind die aus Isigny-sur-Mer – wegen des Süßwassers, das hier in die Bucht fließt und sich auf den Geschmack auswirkt. Austern aus Blainville hingegen haben eine deutliche Jodnote, schmecken besonders frisch und nach Meer.
Doch Meeresfrüchte und Miesmuscheln, Cidre und Calvados sind längst nicht die einzigen Attraktionen der Normandie. Die Geschichte der Kanalküste ist reich, ihre Zeugnisse haben ungezählte Stürme überdauert. Und obwohl sich hier immer mal wieder das Schicksal Europas entschied, verströmen Fischerdörfer und Hafenstädtchen mit ihren kargen Bars und dem vom Meer bestimmten Tagesablauf angenehm provinziellen Charme. Paris ist weit, die Welt sowieso, und beides nicht sonderlich wichtig. Das teilt sich auch Besuchern mit, und das Reisetempo wird hier ganz von selbst gemächlich.
Bayeux besitzt eine Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert, Adelspaläste, die heute angenehme Pensionen sind, und einen gestickten Wandteppich. Er erzählt auf siebzig Metern Länge in achtundfünfzig Episoden die Geschichte der Eroberung Englands durch den Normannen William – anschaulich wie ein Comic. Die Franzosen verehren die bald nach den Geschehnissen des Jahres 1066 entstandene Handarbeit wie ein Heiligtum, englische Besucher untersuchen hier jeden Quadratmeter einer Niederlage, die manche noch tausend Jahre später als Indiz dafür auffassen, dass jenseits des Kanals in erster Linie mit Barbarei zu rechnen sei.
So erstaunlich dieser Wandteppich in seiner übersprachlichen Verständlichkeit ist (abgesehen von sparsamen lateinischen Texten, die die Bilder am oberen Rand kommentieren), so wenig eignet er sich als verlässlicher Tatsachenbericht. Denn er wurde zwar in England, nämlich in Canterbury, gefertigt; doch in Auftrag gegeben hatte ihn Odo von Conteville, ein Halbbruder Williams und Bischof von Bayeux, der ihn in seiner Kathedrale aufhängte. Insofern schien es den fleißigen Stickerinnen (oder Stickern) in Canterbury zu Recht keine gute Idee zu sein, die englische Position besonders schmuckvoll darzustellen. Dafür sieht man Bischof Odo gleich mehrmals Seite an Seite mit William kämpfen.
Nicht zuletzt, weil die Bilder neben Schlachtengetümmel auch eine Menge aus dem Alltag des 11. Jahrhunderts zeigen, hat die Unesco die Tapisserie zum Welterbe erklärt. Vor allem aber zeigt der Teppich die wichtigsten Stationen im Leben und Wirken Williams,
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