Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Backsteinbrücke von Brunel aus dem Jahre 1839 einen Weltrekord zu bieten: Mit jeweils neununddreißig Metern haben ihre beiden Backsteinbögen für die Great Western Railway die größte Spannweite der Welt. Der Vorstand der Gesellschaft wollte bei der Jungfernfahrt nicht glauben, dass die Ziegelsteingewölbe halten könnten und verlangte, dass die Montagekonstruktion aus Holz stehen bleibe. Der Baumeister sagte das zu, und zumindest sahen die Stützen auch weiter so aus. In Wirklichkeit indessen hatte er sie abgesenkt, sodass sie nichts mehr trugen. Dann riss die Flut die Hölzer weg – die Brücke widerstand und blieb. Bis heute. Turner hat sie so gemalt. Es hat dem Örtchen nichts geholfen.
Am Morgen tanzt gleißendes Licht auf den hellen Vorhängen. Eine Bachstelze schaut durchs Fenster herein. Draußen, am Ufergeländer, gibt sich eine Joggerin ganz selbstvergessen ihrer Dehnung hin. Mit Spannern von der Wasserseite hat sie nicht gerechnet. Vereinzelt gleiten Ruderer vorüber. Wer Deo benutzt, schlägt mit dem müßigen Arm von unten an das Sonnendeck. Das Frühstück besteht aus perfekten Spiegeleiern und halb verkohltem Speck. Der Gasbackofen erinnert uns daran, dass bei der Seefahrt Feuer nach wie vor die größere Gefahr darstellt als Wasser. Nach der Boulters-Schleuse passieren wir das herrschaftliche Cliveden-House. Seit George I. hat es alle britischen Könige beherbergt, bis es William Waldorf Astor erwarb und zum Gesellschaftstreffpunkt machte. Auch das falsche Tudorcottage nah am Fluss gehört dazu. Dort drüben, zwischen riesigen Buchen und Walnussbäumen, hat einmal Christine Keeler mit ihrem promovierten Zuhälter gewohnt, als sie »immoral earnings« bezog aus der zeitgleichen Verbindung mit dem britischen Heeresminister und dem Marineattaché der sowjetischen Botschaft, once upon a time , nämlich 1961.
In Marlow, liest man, habe Mary Shelley ihren »Frankenstein« beendet. Wir bewundern die Lage des Städtchens am Fluss, die weißen Häuser, die herrliche Hängebrücke von 1832, die einzige am Fluss, ehe er von den Gezeiten heimgesucht wird. Sie geriet ihrem Erbauer, William Tierney Clark, so überzeugend, dass er sie ein paar Jahre darauf noch einmal bauen durfte, nun zwischen Buda und Pest. Hier, an der alten Brücke, sitzen wir zur Mittagszeit im Compleat Angler. Das herrliche Hotel ein wenig oberhalb des breiten Wehrs, benannt nach Izaac Waltons Bibel für den Angler von 1653, war das erste öffentliche Restaurant, in dem die Queen gespeist hat, 1999. Wir sitzen auf dem Rasen, trinken Pimm’s mit Erdbeeren und Gurkenstückchen. Beim Mittagessen schaukelt unser Hausboot vor dem Fenster. Und wir verachten den Ferrarifahrer, der sein phallisches Gefährt mit Röhren vor der Rezeption zum Halten bringt. Wir hätten ein Signalhorn für den Zweck. Aber wir sagen nur »Cheers!«.
Temple Lock, Hurley Lock, Hambledon Lock, Sonntagnachmittag am Fluss. Wanderer an beiden Ufern, hie und da wird ein Grill aufgebaut. Wir gleiten durch die schönste Wasserlandschaft, reihen uns geduldig in die Schleusenschlange ein und prosten dann und wann den talwärts Fahrenden in ihren Booten zu. Jeder sitzt für sich in seinem Boot, und doch sitzen alle im selben. Das ist es: To be on the river! Der Wind spielt in den Weiden. Und nach jeder Biegung steht ein neues Krötinhall am Fluss. Nach einer engen Biegung Temple Island mit einem Folly auf der Spitze. Die Fishing Lodge von 1771 trägt auf ihrem Dach ein Krönchen in Gestalt einer Rotunde. Unser Haubentaucher sieht mit seinem Krönchen eleganter aus. Seit 1839 findet in Henley-on-Thames die Regatta statt, seit 1851 als »Royal Regatta«, und bei Temple Island liegt der Start. Der Rest der Ufer ist Tribüne, zweitausendeinhundertzwölf Meter bis zum Ziel. Die Häuser sind schon so gebaut, als gäbe es in Henley nur auf dem Wasser was zu sehen, aber weil das noch lange nicht reicht, werden vor dem Ort Gerüste aufgestellt. Im Juli ist Henley die Hauptstadt des gesellschaftlichen England, wie vorher Aintree, Wimbledon, Goodwood und Ascot.
Am nächsten Morgen kreist ein Roter Milan über dem Fluss. Dicht unter ihm zwei Kanadagänse, die ihre frische Brut zu neuen Futterplätzen manövrieren. Der Wind drückt die Themse zum Schein in das Land, sodass die Gänseküken im geschlossenen Verband flussabwärts umso geschickter wirken. Der Schatten der Gabelweihe kreuzt mehrmals dieses Bild von einem Frühstück auf dem glitzernden Tablett, doch der Räuber stößt
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