Letzte Ausfahrt Neckartal
abdrücken. Denn genauso sah Angst aus – die Angst zu sterben. Und Rüdiger Alois Paschl wollte nicht sterben.
Paschl schluckte schwer. Er wirkte, als ob er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Seine Augen glänzten fiebrig. Da weiteten sich seine Pupillen, er sog scharf die Luft ein. Dann schloss er die Augenlider.
Treidler wartete auf den Schussknall. Doch stattdessen sah er die schwere Waffe, die fast wie in Zeitlupe zu Boden fiel. Dann hörte er das Poltern. Jetzt erst bemerkte er, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Treidler löste sie und kickte den schweren Revolver beiseite.
Melchior ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie nickte Treidler zu und zog ihre Handschellen aus der Tasche. »Rüdiger Alois Paschl – ich verhafte dich wegen des Mordes an Goran Markovic, Anstiftung zum Mord an Mehmet Bayram, Strafvereitelung im Amt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und vermutlich noch einiger anderer Delikte.«
Anstandslos ließ sich Paschl die Handfesseln anlegen. Sein Wille war gebrochen. Nach der Zornesröte von vorhin hatten Gesicht und Glatze die gleiche Farbe angenommen wie sein ausgebleichter Blouson. Er starrte mit leerem Blick vor sich hin und schien nicht einmal mehr seine Umgebung wahrzunehmen.
»Woher wussten Sie, dass er nicht abdrückt?« Melchior sah Treidler mit ernster Miene an. Das bunte Tuch um ihren Hals war verrutscht und entblößte ein kleines Stück ihrer Narbe.
Treidler gab Paschl einen leichten Stoß in den Rücken, damit der sich in Bewegung setzte. »Ich wusste es einfach.«
Epilog
Die ersten Reaktionen auf Paschls Verhaftung ließen nicht lange auf sich warten. Schon einen Tag nach Ostern trat ein Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zurück. Aus familiären Gründen, wie es offiziell hieß. Die Überraschung im politischen Berlin war groß, da der Mann als aussichtsreicher Kandidat für einen Ministerposten gegolten hatte. Zwei Tage später folgte eine Kollegin aus dem Innenministerium. Treidler kannte beide Namen nur zu gut aus Edgars Akte.
Währenddessen distanzierte sich das BKA auf einer überstürzt einberufenen Pressekonferenz von ihrem Mitarbeiter und versprach jede erdenkliche Hilfe bei der Aufklärung der ungeheuerlichen Anschuldigungen. Eine Handvoll Führungskräfte präsentierte ihre bedrückten Gesichter vor den Fernsehkameras der Nation und heuchelte Unschuld. Doch schon die erste Frage eines Journalisten nach Überlassung der Originaldokumente zeigte, dass es sich bei den Unschuldsbeteuerungen um bloße Lippenbekenntnisse handelte: Die Papiere waren angeblich in der Behörde nicht aufzufinden.
Edgar blieb wie vom Erdboden verschluckt. Es gab keinerlei Hinweise über seinen Verbleib, und sein Mobiltelefonanschluss war tot. Auch eine Anfrage bei den Krankenhäusern und Ärzten in der näheren Umgebung blieb erfolglos.
Aufgrund der unklaren Herkunft wurde Edgars Akte nicht als Beweismittel zugelassen. Doch obwohl Paschl außer den Angaben zu seiner Person jede Aussage und Zusammenarbeit verweigerte, gab es keinen Zweifel, dass ihm der Prozess gemacht werden würde. Sepp Dorfler konnte eindeutig nachweisen, dass das Projektil, das Goran Markovic tödlich in die Brust getroffen hatte, aus Paschls Colt-Python stammte.
Die Staatsanwaltschaft ließ bei einem ersten Treffen mit den Ermittlungsbehörden durchblicken, dass sie sich auf die Anklage wegen Mordes konzentrierte. Im Klartext bedeutete das: Alle anderen Anschuldigungen wurden fallen gelassen, da sie zu viel Staub aufwirbelten. Immerhin sollte die aktuelle Beweislage und Paschls Geständnis auf Melchiors Mobiltelefon ausreichen, damit eine Verurteilung zur reinen Formsache wurde.
Am Freitag machte sich Melchior auf den Weg nach Berlin. Am Samstagmorgen sollte auf dem Alten Friedhof Weißensee Stankowitz’ Beerdigung stattfinden. Nach der Obduktion war seine Leiche von der Rechtsmedizin erst mit einwöchiger Verzögerung zur Bestattung freigegeben worden. Die Berliner Ballistiker hatten ganze Arbeit geleistet. Wie bei Adam Lewandowski konnte das Projektil eindeutig Markovics Kleinkaliberpistole zugeordnet werden.
Treidler hatte eine Zeit lang überlegt, Melchior zu fragen, ob er mitkommen sollte zur Beerdigung. Doch er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Wahrscheinlich würde sie sowieso Nein sagen. Vielleicht war es auch reiner Selbstschutz vor einer Antwort, die ihm nicht gefiel. Erst eine Woche später kam Melchior zurück und trat, ohne ein Wort über ihre Zeit in Berlin
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