Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
: Was für ein reicher, was für ein strömender, mäandernder Text. Im
Galeerentagebuch
habe ich das Ganze kastriert, vor allem – um A. nicht zu verletzen – die Teile über das Liebesleben. Dadurch kam im
Galeerentagebuch
ein reiner und lichter Text zustande, aber das Licht ist nur intellektuell, es mangelt ihm schmerzlich an sinnlichem Glanz.
15 . Januar 2001 In letzter Zeit stoße ich öfter auf den Wittgenstein-Satz (in Zitaten, denn in den Büchern des Autors blättere ich ja heute kaum noch), wer sich selbst nicht kenne, könne kein «großer Mensch» sein. Ich kann nicht umhin, mich über diesen apodiktisch formulierten Satz zu wundern, denn wer kann sich schon selbst kennen? Das läßt sich selbst von Wittgenstein, diesem klugen Kopf, nicht sagen. Mein Ideal ist lediglich eine gewisse Unabhängigkeit von den Urteilen anderer und ein Sich-Abfinden mit den eigenen kläglichen Möglichkeiten; innerhalb dieser Möglichkeiten aber bis an die äußerste Grenze gehen – das ist alles, soweit es mich, ausschließlich
mich
betrifft.
Heute wurde ich nach einem Anfall von Tachykardie von der tiefen Traurigkeit der Verurteilten erfaßt; immer mehr Indizien, immer weniger Aufschub, du stirbst und hast deine Sache noch nicht zu Ende gebracht; und vielleicht wurdest du deswegen zum Tode verurteilt, wegen dieser Sünde, zu glauben (solange es sich glauben ließ), daß du ewig lebst.
16 . Januar 2001 Ich kann wie die großen Romantiker sagen, mein Herz schlägt wild; nur schade, daß der Grund bei mir die Tachykardie ist. – Doch ein Blick auf meinen Arbeitstisch und den verödeten Garten im Hintergrund – und plötzlich ergreift mich Freude: Solange du lebst, sei glücklich, einzig das Glück ist dem Leben würdig, sonst vegetiertest du würdelos … Auch die Freude ist ein Hüpfen des Herzens, nicht nur die Tachykardie.
17 . Januar 2001 Erkennen zu müssen, daß mein Tagebuch zu einer Wüste persönlicher Klagen geworden ist. Trotzdem muß ich es führen, damit man sieht, was aus einem wird, wenn Geist, Lust und Begabung schwinden. Irgendwann, vor Jahrzehnten, habe ich mir nach dem Vorbild Camus’ selbst den Befehl zur «offenen Kreation» gegeben. Und dazu gehört auch der Kollaps. (Obgleich ich annehmen möchte, daß ich noch imstande bin, den begonnenen «letzten Roman» zu schreiben.)
19 . Januar 2001 Ein reizvoller Gedanke, bei einer eventuellen nächsten Tagebuch-Publikation den Text nicht in einer aphoristischen oder sonstwie bruchstückhaften Form zu bringen, sondern «ohne Pause», als einen einzigen, ungebrochenen Monolog, als Redeschwall, wenn man so will.
20 . Januar 2001 Meine literarische Reputation in Ungarn entspricht der eines Porno-Autors: In der guterzogenen, vornehmen literarischen Gesellschaft schickt es sich nicht, meinen Namen auszusprechen, tut man es doch, dann dient ein spezieller Anlaß dazu, ein gewisses Ritual in der Art schwarzer Messen, oder die schreckliche Farce, wenn man dem Holocaust genannten traurigen Ereignis opfert, von dem im übrigen weder die Anwesenden noch die Nichtanwesenden wissen, was es ist; nur darüber, wie schmachvoll diese Feier ist, sind sich alle im klaren.
23 . Januar 2001 Warum schreibt man? Die Welt als zu lösendes und unlösbares Problem. Das Leben als unüberwindliches Trauma. Nie können wir zu einem Ende kommen, der Tod ist nur das Siegel auf dem, was ständig hinausgeschoben wird. Alles ist in liquidem Zustand, fließt (man müßte das griechische Zitat kennen):
panta rhei
… Die größte Lüge der Marxisten (von den vielen großen) ist, daß es nichts «ewig Menschliches» gebe. Es gibt es. Gerade dadurch ist der Mensch Mensch. – Zum Roman. Das Neue daran: die kontrapunktische Konstruktion. Ich glaube, so etwas hat noch niemand gemacht. Die Form hat sich allmählich herausgebildet, unter sanften Qualen, ohne daß ich von vornherein auf eine neue Form aus gewesen wäre. Aber Kunst ist immer neue Kunst, wie Schönberg sagt, und dieses Erleben der Welt, die völlige Auslöschung des Schicksals, der Wirklichkeit, ist nur auf ungewöhnliche Art zu beschreiben, so ungewöhnlich, wie diese Welt selbst ist, das heißt, wie sie so noch nie gewesen ist.
25 . Januar 2001 In Ungarn läßt sich gut studieren, was dort geschieht, wo nichts geschieht. Dieses Land ist schon lange aus der Geschichte ausgeschlossen; es ist nicht in der Position, die Geschichte, die Weltläufe in irgendeiner Weise zu beeinflussen – also versteht es sie
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