Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
nordeuropäischen Gesichtern. Jede Menge Interviews – interessiere ich die Leute tatsächlich, oder handelt es sich um etwas anderes? Aber um was? Auf dem Umschlag des
Romans eines Schicksallosen
das Gesicht eines halbwüchsigen Jungen; ich erinnere mich an die langen Jahre einsamer Arbeit und das Gefühl, als ich den Roman beendet hatte: Ich bildete mir ein, eine edle literarische Figur geschaffen zu haben, die das Publikum lieben würde. Dann Jahrzehnte, fast zwei Jahrzehnte Stille. Und siehe da, jetzt ist er zum Leben erwacht; ich staune darüber noch nicht einmal genug, ich schlage mich mit den unangenehmen Symptomen des Alterns herum und einer Krankheit, die mich nunmehr immer begleiten wird, bis ich sterbe.
10 . März 2001 Eigentlich gebe ich ein unverantwortliches Interview nach dem anderen. Ich rede über Auschwitz wie ein Großaktionär, der sich seine Rechte vorbehält; es möge zu meiner Entschuldigung dienen, daß mir diese Tonart gewissermaßen abgenötigt wird und ich nur dem «allseitigen Wunsch» nachgebe. Aber warum gebe ich nach? Keineswegs aus Gefallsucht, ausschließlich aus jener Schwäche, vielleicht sollte ich sie richtiger Feigheit nennen, die mich ständig zwingt, den Leuten gefällig zu sein. Was ich in solchen Situationen sage, verstehe ich selbst nicht; und ich ertappe mich ununterbrochen dabei, nicht aus einer Position der Souveränität zu sprechen, sondern mich gleichsam zu verteidigen. Ich fürchte, schließlich mich selbst enorm satt zu haben und das, was ich zu sagen habe, das in solchen Interviews in denkbar banaler Form erscheint. Wenn ich noch lange lebe, werde ich am Ende noch zur Kultfigur, obwohl ich nicht zum Segenspenden unter die Menschen gegangen bin, sondern um ihnen von meinen Erfahrungen zu berichten und das nach Möglichkeit mit den Mitteln der gehobenen Unterhaltung, das heißt der Kunst, zu tun. Warum muß ich darüber hinaus noch weise sein?
Ich lese eine detailreiche Biographie Primo Levis. Was kann man wissen – oder in Erfahrung bringen – von einem Menschen, der aus Auschwitz zurückgekehrt ist, dann Jahrzehnte später (und offensichtlich in Zusammenhang mit dem KZ -Erlebnis) Selbstmord begeht? Ich habe das Gefühl, daß meine Romanfigur geisterhaft und ihre innere Welt nicht darstellbar ist. Der Selbstmord folgt keiner Logik, nur der Dramaturgie, das aber bedeutet eine lange, sich dem Selbstmord entgegenstellende Lebensführung. (Nicht Ciorans von Celan übernommenen Satz vergessen: Er habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Zerstörung zu vermeiden – so ungefähr …)
11 . März 2001 Nach schlafloser Nacht ein frisch gewaschener, blasser Morgen vom Schreibtisch aus; das Auftauchen eines frühen Passanten auf der Straße hinter dem Garten weckt ferne Erinnerungen, ich weiß nicht genau, was für Erinnerungen – an morgendliche Düfte, Kaffee, Eile, an morgendliche Lichter und Farben … Bin in einer Celan-Biographie auf der Suche nach einer vorstellbaren B.-Figur, so wie ich gestern nacht schon Primo Levi studierte; aber ich weiß, daß meine Figur schließlich aus dem spezifischen Gewebe der Handlung hervorgehen muß … In den letzten Tagen sträubt sich etwas in mir stark gegen das ganze habituelle Judentum, Kafka, Celan, Levi – gegen alle; ich bin gegen die Auschwitz-Mystik, die Problematisierung der verschiedenartigen Identitäten. Warum muß, wer als Jude nach Auschwitz gebracht worden ist, Jude sein? Aus Trotz? Aus Empörung? Mir graut vor dem jüdischen Glauben genau wie vor jedem anderen Glauben; aber ich finde Brüderlichkeit in den Gesichtern, der Intonation, einem Lächeln. Das schöne Gesicht meiner Magda ist kein jüdisches Gesicht, und in ihm finde ich Brüderlichkeit. Auch in den Gesichtern von Levi und Celan erkenne ich Verwandtes – aber das bezieht sich nicht auf die Mystik von den Juden; ich kann mir vorstellen, einen Nachmittag lang mit Celan im Gábor-Internat Fußball zu spielen oder der Banknachbar von Levi im Madách-Gymnasium zu sein. Wovon rede ich? Davon, daß mich ein Klischee erwürgt, ich will mich nicht mehr in eine der Varianten einreihen, die im Rollenbuch vorgesehen sind; ich möchte
ich
sein – auch wenn ich nicht wissen kann, wer ich bin; aber mir ist, als würde mir das Schreiben langsam nicht mehr helfen, etwas über mich selbst zu erfahren, mich eher daran hindern; der Zwang der Sprache, einer mich befremdenden, mir fremden Sprache steuert mich. Und ich bin unleugbar glücklich. Ist das
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