Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Editorische Vorbemerkung
Genau ein Jahr nachdem er zum Nobelpreisträger gekürt worden war, am 13 . Oktober 2003 , schreibt Imre Kertész in sein Tagebuch: «Eine ganze Weile schon kann ich meinem Leben nicht mehr folgen, das sich mit kometenhafter Geschwindigkeit von mir entfernt, während ich verwundert hinterherstarre, wie es immer kleiner und kleiner wird; bald wird es kaum noch wahrnehmbar sein am Horizont, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und mache mich mit verzagten Schritten auf den Weg nach Hause.» Unmittelbar darauf spricht er zum ersten Mal von einem neuen Projekt: «Ein radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt (
Die letzte Einkehr
). Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie.»
Was sich hier formuliert, ist der Plan, seine Aufzeichnungen als Grundlage für ein Prosawerk zu verwenden, ähnlich, wie er es schon in
Ich – ein anderer
gemacht hatte, nur ungleich radikaler und stärker fiktionalisiert. In dieser Absicht beginnt er noch im Dezember 2003 ein
Trivialitäten
-Tagebuch, um die Stationen seiner durch den Ruhm hervorgerufenen Selbstentfremdung und des eigenen, durch Krankheit und Alter bedingten Verfalls als Rohmaterial festzuhalten. Im März 2004 sind bereits 30 Seiten der fiktionalisierten Fassung fertig. Dann aber geht die Arbeit nur stockend weiter. Bei Kertész stellen sich Skrupel ein, ob er noch ein weiteres Werk publizieren könne, das auf seinen persönlichen Aufzeichnungen basiert. Hinzu kommt die Befürchtung, daß ihm mit einem so «gnadenlosen» persönlichen Buch nur die Wahl der posthumen Veröffentlichung bliebe.
«Ich weiß nicht, wie ich die schwierigen Probleme der
Letzten Einkehr
lösen soll», notiert er am 6 . August 2004 . «Ich gelange nicht zu der nackten Wahrheit. Ich weiß nicht, was die nackte Wahrheit der
Letzten Einkehr
ist. Vielleicht die Ironie, wie mich der Literarische Hauptgewinn erreicht und vernichtet. Aber dazu ist es nötig, den lächerlichen Gegensatz zwischen meinem Leben und diesem Hauptgewinn klar zu umreißen. Ich müßte meine Umgebung dann als das abbilden, was sie ist: eine mörderische Welt wohlmeinender Verschwörer. Und mich selbst gleicherweise: als eine lächerliche, hilflos im Honig ertrinkende Fliege, eine zugrunde gehende Figur, die sich ohnmächtig ihren sie liebenden Mördern ergibt.»
Beinahe erlöst wendet er sich im folgenden der Arbeit an
Dossier K.
und dem Drehbuch zum
Roman eines Schicksallosen
zu. Das «Trivial»-Tagebuch aber, ursprünglich als Materialsammlung angelegt, gestaltet sich unterdessen selbst zu einem erschütternden Werk der letzten Einkehr und erfüllt am Ende die Prämisse, die sich Kertész für sein «opus magnum ultimum» gesetzt hatte – «ein radikal persönliches Buch, bis nichts mehr übrig bleibt».
Exit-Tagebuch
nennt er das Diarium zum Schluß, bevor er es 2009 , im 80 . Lebensjahr, krank und zutiefst desillusioniert, ganz beendet. Berechtigterweise sind nun die späten Tagebücher mit dem Titel
Letzte Einkehr
versehen.
Am Plan des parallelen Prosawerks aber hat Kertész stets festgehalten. «Ich arbeite an der
Letzten Einkehr
, wie Beethoven an seinen letzten Streichquartetten gearbeitet haben mag», schreibt er im März 2006 . Es schwebe ihm ein Werk «in der Manier Turners» vor, ergänzte er im Gespräch. Wir haben in diese Ausgabe ein Fragment aufgenommen, das zeigt, wie stimmig diese Vergleiche sind.
Ingrid Krüger
Geheimdatei
2001
1 . Januar 2001 Neujahr. Das alte war schwer und ziemlich unproduktiv, mit garstigen Krankheiten gescheckt, von denen eine lebenslänglich bedeutet (Parkinson) und diese bezaubernde Handschrift zur Folge hat; aber sie mahnt mich, daß der Tod nahe ist und also das Leben, das heißt die Arbeit pressiert. – Vor zwei Tagen habe ich mir eine elektronische Schreibmaschine (Laptop) angesehen und beschlossen, mir diese technische Errungenschaft zu eigen zu machen; ich sehe dem mit Aufregung entgegen, denn eine andere Lösung gibt es ohnehin nicht – und wie gut, daß es diese gibt. Der langweiligen Kaste der Erfinder Dank und Respekt!
2 . Januar 2001 Wer bei gesundem Verstand bleibt und Glück hat, stirbt so, wie das Kind gezwungenermaßen sein Spielzeug liegen läßt, wenn es am Abend ins Bett geschickt wird; sich einerseits beklagend, andererseits kaum noch imstande, die Augen offen zu halten.
Weitere Kostenlose Bücher