Letzte Haut - Roman
gross? Ein Versuch ist es aber wert, schliesslich, ein solch studierter Trottel mehr oder weniger, das ist ja auch egal, und solange der Erbprinz den Kopf hinhaelt! Na, haben sich ja zwei Volltrottel gefunden, der Prinz, der glaubt, etwas darzustellen, und der Richter, der glaubt, etwas zu erreichen, aber des Menschen Wille ist ja bekanntlich sein Himmelreich. Lass sie machen, immer lass sie machen. Ich lach mich derweil tot! Nur schade um Tarnat, den ich wegschicken musste.
Ach ja, dachte Schmelz, während er die Papiere sofort in einen der Koffer räumte, die bereits gepackt waren und in der Ecke neben der Bürotür standen: Ach ja, Nebe, ich bin also ein Trottel? Und wer sitzt nun in Buchenwald fest, weil er irgendwas falsch gemacht hat? – Aber ich danke dir! Danke dir von ganzem Herzen! Wenn auch nur zwei oder drei der KZ Geschichten stimmen, die hier gegen Pohl aufgelistet sind, dann ist alles in Butter. Dann bin ich zurück, größer und mächtiger als je zuvor! Jetzt habe ich nicht nur eine Akte Pohl, jetzt habe ich sogar auch eine Akte Kaltenbrunner! – Schmelz, alter Junge, wenn sich das alles als wahr herausstellt, dann gibt es nichts mehr, was dich aufhalten kann! Dann gibt es gar nichts mehr. Höchstens eine totale Kapitulation, aber wie soll die zustande kommen? – Klar, als Goebbels im Sportpalast geschrien hat, wollt ihr den totalen Krieg, da hat er auch die totale Niederlage gemeint, denn schließlich ist auch sie ja Teil des Krieges, und eigentlich hat er also gebrüllt: Wollt ihr die totale Niederlage? Vielleicht, aber nicht heute! Nicht heute und nicht jetzt! Erst einmal wird noch ein wenig gekämpft. – Danke, Nebe, für diese neue Munition, ich danke dir!
Der Ermittlungsrichter stand erneut auf, holte die beiden Personalakten noch einmal aus dem Koffer, trennte sie, legte die über Kaltenbrunner wieder zurück und studierte die über Oswald Pohl aufs Genaueste, wofür er sich einen ganzen Tag Zeit nahm.
Und die Folgetage verbrachte er damit, die Fakten der Akte zu kontrollieren, so gut es von Königsberg aus ging, doch schon am vierten Tag nach dem Eingang des Briefes musste das Gerichtsgebäude am einunddreißigsten Januar fünfundvierzig als letztes Haus der Stadt Königsberg von einer Stunde auf die andere geräumt werden. Schmelz rannte mit seinen beiden Koffern die Treppe hinunter, gelangte auf die Straße, als Fenster splitterten und Hausmauern zusammenbrachen. Er schaffte es gerade noch, die Koffer auf einen anfahrenden Lkw zu werfen und sich ebenfalls auf ihn zu hieven. Drei Kameraden halfen ihm dabei, und während sie alle zurückschauten und zusahen, wie die Stadt von Bombenangriffen zerstört wurde, bereitete Ermittlungsrichter Doktor Kurt Schmelz in Gedanken einen Strafantrag gegen Obergruppenführer Oswald Pohl vor, dem ersten Stellvertreter des Reichsführers.
Als Schmelz im Flugzeug saß, das als letztes die Stadt verließ, in das er es nur dank seiner Uniform noch hineingeschafft hatte, skizzierte er auf einem Stück Papier, das er sich auf die Knie gelegt hatte, den Strafantrag gegen Pohl, wobei er dessen Name mit einem P abkürzte.
Neben ihm saß ein Verletzter, aus dessen verbundener Wunde ständig Blut aufs Papier tropfte, aber Schmelz bekam das gar nicht so richtig mit. Er war wie besessen, und er fühlte sich wie beim Anlauf zum großen, zum ganz großen Wurf, dabei war doch gerade die letzte deutsche Offensive in den Ardennen gescheitert. Die Alliierten warfen über Berlin im Februar fünfundvierzig dreitausend Bomben ab, die Wehrmacht verließ Belgien, die Briten starteten eine Offensive am Niederrhein, Budapest fiel, im nichtbesetzten Deutschland wurden die Lebensmittelrationen noch einmal um elf Prozent gekürzt, die britische Armee stand schon am Rhein, die Rote Armee erreichte in Pommern die Ostsee und Mitte Februar legten britische und kanadische Luftangriffe in drei Wellen die sächsische Hauptstadt in Schutt und Asche. Im Schutze der Kulturdenkmäler Dresdens hatten sich Zehntausende von Flüchtlingen sicher gefühlt, als Feuerstürme, ausgelöst durch Hunderte Tonnen von Bomben, in der Stadt ausbrachen und knapp zweihunderttausend Menschen töteten.
Im März fünfundvierzig reichte Kurt Schmelz von Böhmen aus beim SS Hauptgericht Berlin den Strafantrag gegen Obergruppenführer Pohl, Chef des Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamtes, wegen Verdachts auf Untreue und Anstiftung zur Untreue ein, als wären die Amerikaner nicht an Rhein, Mosel und Maas, die
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