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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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unten zog. Sie stand auf der Schwelle zum Schlafzimmer, in dem es bestialisch stank, und schnell taute der Schnee auf der Kleidung und zerrann als Wasser zwischen den Dielen.
    Zwei Tage, sie hatte sich doch nur zwei Tage Erholungstraum erlaubt, zwei Tage auf einer grünen Insel mit goldfarbenem Strand inmitten der blauen See und unter schneeweißen Wölkchen.
    Schließlich rutschte ihr der feuchte Ledergriff aus der Hand, polternd schlug der Koffer auf das Holz der Türschwelle und kippte um. Anna zuckte heftig zusammen, erwachte aus einer Art Starre, rief den Namen ihres Mannes, doch viel zu leise.
    Nein, sie wollte jetzt lieber nicht gehört werden, nein, er sollte sie nicht hören. Nicht jetzt.
    Sie ging in die Küche, sie schaltete die große Herdplatte an, sie wunderte sich, warum ihr die Handgriffe so schwer fielen, einen Topf aus dem Schrank zu nehmen, Wasser in ihn laufen zu lassen, ihn auf die Herdplatte zu stellen, einen Teebeutel aus der Papierschachtel zu fingern, ihn in eines der dickbäuchigen Gläser zu legen, ohne dass das Etikett ebenfalls hineinfiel, all diese alltäglichen Handgriffe, tausendmal gemacht, Tausende und Abertausende Male, wie schwer sie ihr doch jetzt fielen, wunderte sich Anna, ehe sie sich auf die Hände konzentrierte, die doch noch immer in den alten Lederhandschuhen steckten.
    Kein Wunder.
    Heute Abend kein Wunder.
    Sie streifte die Handschuhe ab, sie legte sie übereinander auf den Küchentisch, ganz an den Rand, und als das Wasser sprudelte, nahm sie den Topf vom Herd, schaltete die Platte aus, und beim Eingießen des Wassers ins Glas rutschte ihr dann doch das Stückchen Papier mit hinein ins Kochende!
    Wie so oft!
    Wie oft war ihr das nicht schon passiert. Sie ließ den Griff des Topfes los, der Topf fiel polternd auf die Bodenfliesen, und Anna begriff, sie müsse jetzt etwas sagen, sie müsse jetzt von der Stimme Gebrauch machen, andernfalls könne es sein, sie werde verrückt. Anna verstand, sie müsse sich jetzt selbst hören. Sofort.
    Ihre Finger bewegten sich über die Tastatur des Telefons, es tutete, es tutete Mal um Mal. Es tutete lange Minuten hindurch, sie setzte sich auf den Stuhl im Flur, der neben dem Telefontisch stand, sie hörte es tuten, und sie sah das viele Blut zu ihren Füßen. Getrocknete Pfützen. Schmale Rinnsale. Sie sah es an den Spiegel geschmiert, sie sah vergilbte Blätter vor der Wohnungstür, auf denen sich blutgetränkte Fingerabdrücke fanden, und überall waren diese kleineren Fetzen alter, sich bereits krümmender Haut, und ganze Streifen dieser Haut befanden sich auf den Dielen, diese Haut, die sie sooft gestreichelt hatte, von der sie jeden Zentimeter kannte, diese Haut, die nun tot im schummrigen Flur lag, abgestorben. Weggeworfen. Liegengelassen.
    „Hallo?“
    „Paul!“
    „Anna?“
    „Paul!“
    „Weißt du, wie spät es ist?“
    „Nein.“
    „Nein? – Warum rufst du an?“
    „Ich musste meine Stimme hören.“
    „Was?“
    „Ich glaube, ich werde verrückt.“
    „Das glaube ich auch, weißt du nun, wie spät es ist?“
    „Nein. – Paul?“
    „Ja?“
    „Komm her, Paul.“
    „Jetzt?“
    „Ja, Paul. – Es ist etwas Schreckliches geschehen, Paul.“
    „Was?“
    „Schreckliches ist hier geschehen, Paul.“
    „Gut, Anna, ich komme.“
    „Paul?“
    „Ja?“
    „Danke!“
    „Danke mir nicht! Bedanke dich nicht immer. Immer bedankst du dich, Anna.“
    „Ja.“
    „Wir sind Geschwister, ob wir nun wollen oder nicht.“
    „Ja, Paul.“
    Sie legte den Hörer auf die Tischplatte und ging zurück in die Küche. Nur weg, sie wollte nur weg aus diesem Flur, nur weg.
    Das Etikett des Teebeutels hatte sich aufgelöst. Sie behielt den Faden zwischen Daumen und Zeigefinger, sie hörte eine Krähe krächzen, und sie wusste erst nicht, wohin mit dem nassen Beutel. Wohin damit?
    Wohin nur mit ihr?
    Wie sollte sie in der Finsternis nur etwas sehen können? Diese dicken, schwarzen Vorhänge, die sich vor den Sternen befanden. Hier, dachte sie und stellte das Glas auf den Nachttisch, der sich rechts vom Ehebett befand: Hier, Kurt, dein Tee.
    Sie blieb erst einmal stehen, der Tür wieder näher als dem Bett. Wie konnte so etwas passieren? Die Augen waren ihm ja offen, die Pupillen aber standen fest. Sie waren nicht glasig, es fehlten den Augen eben nur die Lider. Die Lider, die lagen ja im Flur.
    Und dem Mund fehlten eben nur die Lippen. Die Lippen, die lagen ja vor dem Spiegel.
    Und dem Kopf fehlte eben nur das Gesicht. Das Gesicht, aber

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