wo das geblieben war?
Nein, er war nicht tot, er konnte ja noch gar nicht gestorben sein, sie hatte ihm doch Tee gemacht, sie hatte ihm doch extra einen Tee gekocht, so egoistisch würde er doch niemals sein.
Anna hielt den Atem an, sie lauschte, sie lauschte konzentrierter, und sie hörte den anderen Atem. Sie hörte den Anderen atmen.
Sie hörte ihn röcheln. Ein Röcheln, ehe sie deutlich ihren Namen hörte.
„Ja“, sagte sie.
Er regte sich, Kurt regte sich irgendwie, wobei er unter Qualen stöhnte, ihr Mann kam zu Sinnen, vielleicht zum letzten Mal? Waren dies die letzten Momente der Klarheit? Jene Momente, welche den Sterbenden doch stets vom Tod gestattet werden? Sie trat einen Schritt auf Kurt zu, und er brachte es fertig, die Augen in ihre Richtung zu bringen, sie mit dem Blick festzuhalten, während sie den Schein der Flurlampe im Rücken hatte.
Jetzt musste sie doch näher herantreten, sie musste sich sogar auf dieses Bett setzen, vor dem sie sich so ekelte. Ein Sud aus Körperflüssigkeiten, der nicht mehr in Laken und Matratze eindringen konnte, weil diese schon völlig durchgeweicht waren, stellte Anna fest.
Sie stand vom Bettrand auf, ließ nach kurzer Überlegung den Tee stehen, der doch schon kalt geworden sein musste, und ging zur Schwelle, wo sie sich noch einmal umdrehte. Nein, sie war froh, die Tür zu dieser stinkenden Gruft schließen zu können. Anna war froh, und sie schloss die Tür auch, leise und mit langsam nachlassendem Druck auf die Klinke; wie in all den Jahren zuvor.
EPILOG
Doktor Kurt Schmelz wurde im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Zeuge der Verteidigung und in den Nachfolgeprozessen Zeuge der Anklage. Er sagte in den Nürnberger Prozessen aber auch im Auschwitz Prozess detailliert über die Struktur der Waffen SS aus, über das Netz der Konzentrationslager und auch über den Aufbau des Rechtssystems im Nazireich.
Er galt bei den Alliierten als zuverlässiger Zeuge, und kurz nach den Prozessen wurde er in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main Notar und Rechtsanwalt. Unter anderem Namen gab es diesen Mann wirklich, der einsam im Februar des Jahres zweiundachtzig im hessischen Frankfurt verstarb.
In einem der Nürnberger Prozesse wurde auch der Erbprinz zu Waldeck Pymont angeklagt und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Außerdem wurde sein gesamtes Vermögen eingezogen.
Jedoch kam er wenige Jahre später frei, und bald darauf gelang es ihm auch, sich das Vermögen zurückzuholen. Es ging das Gerücht, er habe gedroht, ähnlich wie einst die pommersche Sidonia von Borcke einen Fluch auszustoßen, deren Vermögen der Landeskasse zugeführt worden war, nachdem sie als Hexe verbrannt worden war. Ein Fluch, der mitten im Dreißigjährigen Krieg das Ende des pommerschen Herzogsgeschlechts eingeleitet hatte. Doch dieses Gerücht hielt sich nur einige Tage.
In Nürnberg wurde Ernst Kaltenbrunner zum Tode verurteilt, und in einem späteren Prozess auch Oswald Pohl, wobei Schmelz weder als Ermittelnder noch als Zeuge auftrat. Doktor Kurt Schmelz griff nicht noch einmal in die Weltgeschichte ein. Neue Leute fanden sich, jüngere.
Auch Waldemar Hoven wurde zum Tode verurteilt, jedoch nicht die ‚Hexe von Buchenwald‘.
Ilse Koch lebte unbehelligt in Ludwigsburg bei Stuttgart. Sie führte ein ausschweifendes Leben. Tag und Nacht trank sie. Oft blieb sie tagelang weg, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Sie brachte Männer mit nach Hause, und eine Vermieterin nach der anderen setzte sie vor die Tür, wobei die Begründung immer die gleiche war. Sie habe das Zimmer in ein Bordell verwandelt, sie sei eine Hure.
Dank S. U.’s Mutter
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Der Verfasser dankt Karsten Raabe, der im Sommer 2003 auf Originalakten zum hier erzählten Fall stieß, ihn darauf aufmerksam machte und in den letzten Jahren den historischen Hintergrund der Romanfigur Doktor Kurt Schmelz recherchiert hat. Karsten Raabe, 1960 in Leipzig geboren, hat Wirtschaftsgeschichte studiert und über das Dritte Reich gearbeitet.
friktion 16
Erste Auflage 2013
© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
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Umschlaggestaltung und Illustration: Falk Nordmann, Berlin
Gestaltung und Satz: Tropen Studios, Leipzig
ISBN 978-3-88221-744-5
eISBN 978-3-88221-959-3