Ganz oder gar nicht (German Edition)
HIER DER LODDAR, DORT GRANDE LOTHAR
Es ist noch nicht so lange her, da hielt ich mit meinem Auto an einem serbischen Grenzübergang. Ich reichte meinen Pass durchs Fenster und beobachtete den Gesichtsausdruck des Beamten. Er zog die linke Augenbraue hoch, bückte sich, sodass er mir ins Gesicht blicken konnte, und sagte auf Englisch: »Herr Matthäus, ich werde Ihnen Ihren Pass nicht wieder aushändigen können.« Nicht mehr aushändigen? Wie bitte? Ich war entsetzt und fragte nach dem Grund. Da fing er an zu lachen. »Damit Sie das Land nicht mehr verlassen können. Bleiben Sie hier und kümmern Sie sich um unseren Fußball!«
So etwas passiert mir im Ausland.
In Deutschland dagegen würden mir einige am liebsten den Pass wegnehmen, damit ich nicht mehr ins Land reinkomme.
In Italien wiederum interessiert es nicht, welches Auto ich fahre, ob ich als Fünfzigjähriger eine junge Frau habe, viermal geschieden bin oder mich auf einer Pressekonferenz versprochen habe. Es gibt keine Häme, es gibt keinen Spott, es gibt keinen Neid. Ich treffe auf Respekt und Anerkennung.
Selbst heute, zwanzig Jahre nach meinen Erfolgen bei Inter Mailand, werde ich im Giuseppe-Meazza-Stadion immer noch von Tausenden mit Applaus empfangen, wenn ich die Tribüne hochgehe, um mir mal wieder ein Spiel anzuschauen. Diese Achtung ist unglaublich; dieses Gefühl, dass man weiterhin ein Teil dieser Familie ist. Der Verein ist längst umstrukturiert, neue Angestellte arbeiten in den Büros, aber die Fans vergessen dich nicht. Sie erinnern sich, was du für ihren Verein geleistet, welche Momente du ihren Herzen geschenkt hast. Egal, wo ich in Italien hinkomme, ob auf Sizilien, in Rom, in Verona oder selbst beim Italiener in München – ich habe dort einen Spitznamen: Il grande. Der Große. Wer in Italien »grande« sagt, meint »Grande Lothar«. Nur hier, in Deutschland, bin ich »der Loddar«. Das ist schon kurios, denn ich finde eigentlich nicht, dass ich fußballerisch für Italien mehr geleistet habe als für Deutschland.
In diesem Buch will ich sowohl den Fans in meiner Heimat als auch den Leuten, die mich Loddar nennen, zeigen, wer ich wirklich bin. Ich habe es zu lange den Journalisten überlassen, über mich zu schreiben. Journalisten, denen ich mich oft zu schnell anvertraut habe, die meinen Namen missbrauchten. So entstand ein Image von mir – aber wer kennt mich wirklich? Die meisten haben sich ein Bild von mir gemacht über provozierende Schlagzeilen, abstruse Anekdoten und billige Pointen. Aber ist das Lothar Matthäus? Bin das ich? Ich werde klarstellen, vervollständigen und erklären, was mich ausmacht, warum ich der bin, der ich bin, und was sich hinter manchen Entscheidungen verborgen hat, die für Irritationen sorgten.
Natürlich ist mir bewusst, dass ich für mein Image auch selbst verantwortlich bin. Zu oft habe ich vergessen, wie interessant ich für die Öffentlichkeit bin. Vielleicht habe ich zu sehr in mein Privatleben blicken lassen, zu viele Interviews gegeben. Nicht unbedingt, weil ich sie geben wollte, sondern – es mag komisch klingen – weil ich ein höflicher Mensch bin und dazu erzogen wurde, auf Fragen zu antworten. Vielleicht war es aber auch mein Kampf um Anerkennung, der mich zu offenherzig werden ließ, zu blind und zu naiv, um zu bemerken, wenn jemand meine Gutmütigkeit ausnutzen wollte. Das gilt für Journalisten, aber auch für Menschen in meinem Umfeld, in denen ich ursprünglich Freunde vermutete. Ich habe erst später realisiert, dass sie nichts anderes waren als Profiteure.
Ich habe daraus gelernt, und trotzdem wird mir dieser Fehler vielleicht auch zukünftig passieren. Ich will mich nicht verbiegen.
HERZ GEHT VOR GEHIRN
Eines kann ich mir jedoch nicht vorwerfen: dass das, was ich der Öffentlichkeit preisgab, unehrlich oder verfälscht gewesen wäre. Ich bin Ehrlichkeitsfanatiker. Ich bin Gerechtigkeitsfanatiker. Und ich bin ein Herzmensch. Das heißt, ich handele aus dem Herzen – so sehr, dass ich mir manchmal wünschte, mehr das Hirn benutzt zu haben. Aber mein Herz überstimmte regelmäßig den Kopf.
Trotz der vielen unliebsamen Dinge, die ich mit dieser Maxime erlebt habe, stehe ich nach wie vor zur Stimme meines Herzens. Weil ich an das Gute glauben will. Weil ich mich um andere sorgen, weil ich vertrauen will. Deshalb bereue ich auch keine Hochzeit, denn sie kamen alle von Herzen. Sie waren alle ehrlich und folgten meinem inneren Leitsatz: Mache es ganz, oder mache es gar
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