Leuchtfeuer Der Liebe
schamhaft. Sie trug immer noch Morgenmantel und Nachthemd, ihr Haar war zerzaust vom Wind und vom Liebesspiel mit Jesse. „Wie nett, uns zu besuchen."
Unter der breiten Hutkrempe, die ihre Augen beschattete, lächelte Annabelle. Ein dünnes, verkniffenes Lächeln. „Entzückend, dieses kleine Haus", sagte sie. „Wo ist mein Bruder?"
„Er hatte Nachtwache im Leuchtturm." Ungebetene Erinnerungen an die vergangene Nacht drängten sich Mary auf. Beim Gedanken an Jesses zärtliche Liebkosungen mit Händen und Mund, mit denen er sie zu höchsten Wonnen der Lust getragen hatte, wurden ihr die Knie weich. „Wahrscheinlich hat er noch zu tun und versorgt die Pferde, bevor er zum Frühstück kommt."
Annabelle musterte Mary von Kopf bis Fuß, schließlich ruhte ihr Blick auf dem Baby. „Ich verstehe."
„Wollen Sie nicht ablegen?" fragte Mary beklommen. Annabelle zog den breiten Pelzkragen ihres Mantels höher. „Nein, danke. Ich bleibe nicht lange."
Mary legte Davy in die Wiege. Sie hatte ihn bei Palina gestillt, nun war er satt und schläfrig. „Ich setze Teewasser auf und ziehe mich rasch an."
Nachdem sie die sterbende Glut im Herd aufgestochert und Holz nachgelegt hatte, wollte sie zur Stiege.
„Wie geht es Davy?" Annabelle beugte sich über die Wiege.
Mary konnte sich nicht erklären, wieso die Gegenwart von Jesses Schwester sie so befangen machte. „Gut. Er ist gesund und munter." Sie eilte ins Schlafzimmer. Je länger sie die Wahrheit vor Annabelle verbarg, desto unerträglicher wurde die Spannung. Hoffentlich kam Jesse bald zurück.
Sie glättete die Röcke ihres Winterkleides - ein dunkelblaues Wollkleid aus Emilys Garderobe, das Jesse ihr kürzlich gegeben hatte, ohne in Schwermut zu verfallen wie sonst, wenn er an Emily erinnert wurde. Mary kämmte sich, flocht das Haar zu einem Zopf und eilte nach unten.
Annabelle saß am Tisch, ohne sich um das kochende Wasser in dem Kessel auf dem Herd zu kümmern, von dem der Dampf aufstieg. Ihr Mantel aus Seehundfell glänzte in den Morgensonne. Mary schluckte ihren Unmut hinunter, während sie Tee aufbrühte. Eine vornehme Dame wie Annabelle hatte vermutlich noch nie einen Handgriff in einer Küche getan.
„Eine Tasse Tee wird uns gut tun", sagte Mary munter und stellte die Kanne auf den Tisch.
Als Annabelle die Tasse zum Mund führen wollte, zitterte ihre Hand so heftig, dass sie den heißen Tee über den Pelz verschüttete.
„Fühlen Sie sich nicht wohl?" Mary holte rasch ein Tuch und wischte den nassen Fleck an ihrer Brust weg.
Annabelle zuckte mit einem winzigen Aufschrei zurück, als habe sie Schmerzen.
Mary fuhr erschrocken zurück. „Tut mir Leid. Haben Sie sich verbrannt?"
„Nein." Annabeiles sonst so helle, mädchenhafte Stimme klang schneidend. „Es ist nur eine leichte Prellung. Eine alte Verletzung." Wie ein kleines Mädchen, das sich plötzlich an seine guten Manieren erinnerte, lächelte sie schuldbewusst und nippte geziert an der Tasse. Doch in den eisigen Tiefen ihrer Augen lag nichts Kindliches, als sie hinzufügte: „Eine verdiente Strafe, weil ich ständig alles falsch mache."
„Aber Annabelle, ich verstehe nicht. Strafe? Von wem? Und weswegen? Sie machen doch nichts falsch", versicherte Mary ihr. Beeil dich, Jesse, und komm nach Hause. „Nichts, was geschehen ist, ist Ihre Schuld."
„Du lieber Himmel", entgegnete Annabelle spöttisch. „Sie haben ja keine Ahnung. Ich mache alles falsch." Mit mechanischen Bewegungen, allem Anschein nach, ohne zu wissen, was sie tat, löffelte sie Zucker in ihren Tee. Einen, zwei, drei Löffel. „Und dafür muss ich büßen. Es war töricht, aus Portland fortzulaufen." Drei weitere Löffel Zucker. Der Tee würde ungenießbar sein. „Mein Platz ist zu Hause. Mein Platz ist bei Granger."
„Aber Sie sagten doch, er habe die Firma betrogen und sei mit unterschlagenem Geld untergetaucht. Es ist doch völlig normal, dass Sie sich in Ihrer Not an Jesse wenden." Mary zog die Zuckerdose weg.
Annabelle blickte auf die Tasse, dann auf die Dose. Dann sah sie Mary an. „Granger sagte mir, was Sie getan haben. Er sagte mir, Sie hätten sein Kind zur Welt gebracht. Er wollte es mir schenken. Er wollte, dass es mir gehört."
Mary gefror das Blut in den Adern. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Oh, Annabelle", flüsterte sie. „Es tut mir so schrecklich Leid. Jesse und ich, wir wollten es Ihnen sagen ..."
„Das Baby steht mir zu, es gehört mir", sagte Annabelle tonlos, und dennoch hörte
Weitere Kostenlose Bücher