Leute, ich fuehle mich leicht
dem Fenster springe und ins Bodenlose stürze, damit es endlich zu Ende ist mit dieser tiefen Trauer. Ich will doch nur nach Hause kommen, mich geborgen fühlen und wissen, dass alles gut ist. Ich bezweifle nur immer stärker, dass mir diese Geborgenheit je ein Mensch wird geben können. Ich muss sie mir selber geben, ich weiß nur nicht, wie. Meine ganze Hoffnung liegt auf dem Erwachsensein. Ich denke, dass dann vielleicht alles leichter sein wird. Vielleicht fühle ich mich dann ununterbrochen stark und toll, sodass mir all die Menschen nichts mehr anhaben können, von denen ich annehme, dass sie mich komisch oder dumm finden. Manchmal glaube ich, ich bin nicht dafür geschaffen, mich unter meinesgleichen aufzuhalten. Sobald andere Leute um mich herum sind, geht es mir schlecht. Ich werde traurig und will mich verkriechen. Ich muss lernen, mich auf das Schöne zu konzentrieren, auf das Gute. Nur: Wo ist das? Ich glaube, ich will so sein, wie die Frau von Doktor Wilhelm, die scheint in sich gefestigt zu sein. Sie setzt sich wieder aufrecht hin und lächelt mich an, aber nicht mitleidig, sondern so, wie sich Freunde anlächeln, Leute, die sich gegenseitig erkannt haben und sich auf Anhieb mögen. Ich ziehe die Mundwinkel hoch, zum Zeichen, dass ich sie auch mag. Ich könnte es Simone gleich sagen: Gegen diese Frau wird sie nie ankommen. Jeder Mann kann sich glücklich schätzen, so eine Lady neben sich zu haben.
Unser Essen kommt und Simone stochert in ihrem Spinat herum. Sie flüstert: »Leute, ich kriege nichts runter.«
Johannes mampft dafür gleich los und sagt: »Mensch, Simone, du bist ja ganz bleich um die Nase.«
Das stimmt. Johannes und ich grinsen uns heimlich an. Und dann fragt mein Freund mich ganz rundheraus, ob ich einen Bissen von ihm haben möchte. Ich nicke. Ausnahmsweise. Er steckt mir eine Gabel mit Spinat und einem kleinen Stück Fleisch in den Mund. Ich kaue ganz schnell und schlucke alles runter, bevor ich es mir anders überlege. Ich muss sagen, es schmeckt sehr gut. Und dann steckt mir Johannes gleich noch mal eine volle Gabel in den Mund, und es macht Spaß, sich das Essen zu teilen. Für einige Minuten vergessen wir, dass ich magersüchtig bin und dass die dumme Simone neben uns sitzt und ihren Oberkörper weit rausstreckt, um ihre Brüste ideal zur Geltung zu bringen. Mehr hat sie offenbar nicht zu bieten. Herr Doktor Wilhelm hat inzwischen seine Menükarte wieder runtergenommen und unterhält sich mit seiner Frau. Ab und an gibt er ihr einen Kuss auf die Wange. Dann prosten sie sich mit ihren Weingläsern zu.
Simone hält den Kellner an, der an uns vorbeihechtet, und sagt in strengem Ton: »Einen Wodka, bitte. Aber schnell.«
Ich sage: »Was willst du denn damit?«
»Mich besaufen.«
»Warum das denn?«
»Weil ich mir dieses Theater nicht länger bieten lasse.
Warte nur ab. Herrn Doktor Wilhelm werde ich heimleuchten. Wenn der meint, dass er mich ungestraft ignorieren kann, dann hat er sich geschnitten.«
Der Kellner kommt mit dem Wodka, Simone rupft ihn ihm aus der Hand und trinkt ihn in einem Zug aus. Gleich darauf meint sie: »Danke, ich nehme noch einen. Einen doppelten!«
Der Kellner guckt etwas verunsichert und zieht sich dann vornehm zurück.
Simone streckt sich durch und stiert in Richtung Doktor Wilhelm, der gerade einen Salatteller vorgesetzt bekommt. Sie zischt: »Warte nur, Bürschchen.«
Unter uns: Doktor Wilhelm scheint ein Gespür für knifflige Situationen zu haben. Er wirkt etwas nervös. Außerdem stehen auf seiner Stirn Schweißperlen, die tupft er sich mit seiner Serviette ab. Leute, ich habe fast das Gefühl, dass da vielleicht doch schon mal was gelaufen ist. Simone ist eben nach dem gleichen Bauplan wie Cotsch erstellt. Die beiden wissen, wie es geht, verheiratete Männer ins Verderben zu reißen.
Johannes legt seine Gabel beiseite und meint: »Simone, ich will mich ja nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber vielleicht sollten wir besser aufbrechen und du vergisst die Sache mit Doktor Wilhelm. Mir scheint, er ist glücklich verheiratet.«
»Spinnst du? Es gibt keine glücklich verheirateten Menschen. Und schon gar keine Monogamie. Erst recht nicht bei Herrn Doktor Chefarzt Wilhelm. Wenn du weißt, was ich meine. Bis jetzt habe ich es immer geschafft, Paare auseinanderzubringen, und ich werde es auch weiterhin schaffen. Ich bin eine emanzipierte Frau und schlafe, mit wem ich will. Im Übrigen...«
»Okay, aber ich befürchte nur, dass dein
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