Lewis, Michael
Firmen, die solide,
amerikanische Mittelschichtwerte vertraten, als es für jedes
Wall-Street-Unternehmen Mitte der achtziger Jahre galt.
Die
Veränderungen waren Tarnung. Sie halfen, Außenstehende von dem ganz schlichten
Tatbestand abzulenken, dass die Interessen der Leute, die Geschäfte mit
Finanzrisiken machten, und die der breiteren Gesellschaft immer weiter
auseinanderdrifteten. An der Oberfläche bewegte sich etwas, aber unten in der
Tiefe blieb der Bonus-Pool unberührt.
Dass
die amerikanische Finanzkultur so schwer zu verändern war - und die Politik
selbst nach der Subprime-Hypothekenkatastrophe so lange brauchte, ihre
Veränderung zu erzwingen -, lag in der Tatsache begründet, dass ihre
Entwicklung so lange gedauert hatte und ihre Grundannahmen so tief verwurzelt
waren. Eine Nabelschnur verband den Bauch des geplatzten Ungeheuers mit der
Finanzwelt der achtziger Jahre. Die Krise von 2008 wurzelte nicht nur in den
Subprime-Krediten, die 2005 vergeben wurden, sondern in Ideen, die 1985 entstanden
waren. Einer meiner Freunde in meinem Schulungsprogramm bei Salomon Brothers
entwickelte 1986, also ein Jahr, nachdem wir die Schulung absolviert hatten,
das erste Hypothekenderivat. (»Derivate sind wie Schusswaffen«, sagt er noch
heute gern. »Das Problem sind nicht die Instrumente, sondern die, die diese
Instrumente benutzen.«) Mezzanine-CDOs wurden 1987 in Michael Milkens
Junk-Bond-Abteilung bei Drexel Burnham erfunden. Die ersten hypothekenbesicherten
CDOs entwickelte im Jahr 2000 ein Händler bei Credit Suisse, der seine
prägenden ersten Berufsjahre in der Hypothekenabteilung von Salomon Brothers
verbracht hatte. Er hieß Andy Stone und hatte nicht nur eine geistige, sondern
auch eine persönliche Verbindung zur Subprime-Krise: Er war Greg Lippmanns
erster Chef an der Wall Street.
Ich
hatte Gutfreund nicht mehr gesehen, seit ich die Wall Street verlassen hatte.
Und auch vorher war ich ihm nur ein paar Mal nervös in der Handelsabteilung
begegnet. Einige Monate vor meiner Kündigung baten meine Vorgesetzten mich,
unserem Firmenchef das damals noch exotische Geschäft mit Derivaten zu erklären,
das ich mit einem europäischen Hedgefonds getätigt hatte, und ich versuchte es.
Er behauptete, er sei nicht clever genug, etwas davon zu verstehen, und ich
hielt es für die übliche Art eines Wall-Street-Vorstands, zu zeigen, dass er
der Boss und über die Details erhaben war. Es gab für ihn keinen Grund, sich an
diese wenigen Begegnungen zu erinnern, und er erinnerte sich auch tatsächlich
nicht daran. Als mein Buch erschien und für ihn zu einem PR-Ärgernis wurde,
erklärte er den Reportern, wir seien uns nie begegnet. Im Laufe der Jahre hörte
ich das eine oder andere über ihn. Ich wusste, dass er nach seinem erzwungenen
Rücktritt bei Salomon Brothers schwerere Zeiten durchgemacht hatte. Später
erfuhr ich, dass er einige Jahre vor unserem gemeinsamen Mittagessen an einer
Podiumsdiskussion der Columbia Business School über die Wall Street
teilgenommen hatte. In seinem Redebeitrag hatte er den Studenten geraten, etwas
Sinnvolleres mit ihrem Leben anzufangen, als an der Wall Street zu arbeiten.
Als er seine Karriere beschrieben hatte, war er weinend zusammengebrochen.
Als
ich Gutfreund eine E-Mail schickte, um ihn zum Mittagessen einzuladen, hätte er
nicht höflicher und freundlicher antworten können. Diese Haltung hielt sich,
als man ihn an den Tisch führte, er mit dem Restaurantbesitzer plauderte und
sein Essen bestellte. Er hatte einen halben Gang heruntergeschaltet und bewegte
sich bedächtiger, sah aber ansonsten noch immer so aus wie früher. Dasselbe
höfliche Auftreten kaschierte denselben animalischen Impuls, die Welt zu sehen,
wie sie war, nicht, wie sie sein wollte.
Gut
20 Minuten unterhielten wir uns darüber, dass unser Zusammenkommen an einem
Tisch die Welt nicht aus den Angeln heben würde. Wir stellten fest, dass wir
einen gemeinsamen Bekannten hatten, und waren uns einig, dass der Chef eines
Wall-Street-Unternehmens nicht wirklich imstande war, sich über die hektischen
Innovationen innerhalb seiner Firma auf dem Laufenden zu halten. (»Ich habe
nicht alle Produktlinien verstanden, und das gilt für die anderen ebenfalls.«)
Außerdem waren wir einer Meinung, dass der Chef einer Investmentbank an der
Wall Street schockierend wenig Kontrolle über seine Untergebenen hatte. (»Sie
schmieren dir Honig ums Maul und machen dann, was sie wollen.«) Die Ursache der
Finanzkrise war seiner
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