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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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herzustellen.
    Hier nun alles, was wir über den Lebensweg des Aals heute zu wissen glauben: Geschlüpft in der Sargassosee, treiben und schwimmen die Larven des Europäischen Aals an der amerikanischen Küste entlang nach Norden und biegen schließlich, dem Golfstrom folgend, Richtung Europa ab. Dabei werden sie zunächst von den Larven des Amerikanischen Aals begleitet, die aus derselben Gegend stammen, es dann aber offenbar vorziehen, auf die anstrengende Atlantiküberquerung zu verzichten. Warum die europäischen Larven nicht auch einfach in Amerika bleiben, ist unbekannt, stattdessen quälen sie sich mehrere Jahre lang über den Atlantik. Beim Erreichen der europäischen Küsten verwandeln sich die Larven in sogenannte Glasaale, wobei unklar ist, was genau diese Metamorphose auslöst – möglicherweise ist es die Erleichterung, endlich einmal wieder Land zu sehen. Glasaale sind kleine, durchsichtige, wurmartige Dinger, die als Delikatesse gelten und in großen Mengen gefischt werden. Die Erfahrung, nach einer mehrjährigen Atlantiküberquerung auf dem Teller eines Spezialitätenrestaurants zu landen, darf man wohl getrost als antiklimaktisch, ja, enttäuschend bezeichnen.
    Alle überlebenden Glasaale, und hier beginnt der schon lange bekannte Teil des Aallebens, entwickeln sich zu der adulten Form, Gelbaal genannt, und zwar in den Süßwasserflüssen Europas. (Dasselbe geschieht auf der anderen Seite des Atlantiks mit den kleinen amerikanischen Aalen.) An dieser Stelle kann man leicht viele Jahre Aalleben überspringen, weil nichts Besonderes passiert. Der erwachsene Aal lebt als Fisch unter Fischen, einige werden zwischendurch geräuchert, und wer davon verschont bleibt, den ruft, im Alter von 5, 10 oder auch 20 Jahren, eine mysteriöse Stimme zurück ins Meer. Auf dem Weg dorthin lässt er sich durch fast nichts aufhalten, nicht durch Dämme oder gar Land. Nur gegen die Turbinen der Wasserkraftwerke, die regelmäßig Aale in Fischhäppchen verwandeln, hat er noch kein Mittel gefunden. Während der Reise zum Ozean geschieht eine interessante Umwandlung, der Aal wird silbrig, seine Augen vergrößern sich, und, ganz entscheidend, der Verdauungstrakt verkümmert. Erreicht dieser sogenannte Silberaal das Meer, so ist sein Schicksal vorgezeichnet – er ist auf einer Selbstmordmission, deren Dauer durch seine Körperfettreserven bestimmt wird.
    Es folgt der bis heute rätselhafte Teil des Aallebens. Aalexperte Friedrich-Wilhelm Tesch verfolgte die Aale in den Siebzigern immerhin bis zum Atlantischen Rücken, dann waren die Batterien der Sender leer, mit denen er sie ausgerüstet hatte. Andere Expeditionen entdeckten Silberaale in der Sargassosee, verloren sie jedoch schnell wieder aus den Augen. Irgendwie schaffen die Aale es anscheinend zurück zu ihrem Ursprungsort. Auf dem Weg dorthin produzieren die Männchen unter ihnen auch endlich das Sperma, das Sigmund Freud und andere so angestrengt suchten. Am Ziel angekommen, müssten die weiblichen Aale dann Laich ablegen, den die männlichen Aale befruchten, wodurch schließlich die Fortpflanzung zustande kommt. So jedenfalls die Theorie, denn trotz umfangreicher Anstrengungen hat diesen wichtigen Vorgang noch nie jemand in der Natur beobachtet. Außerdem ist unklar, was aus den Eltern wird, die eigentlich nicht anders können, als kurz nach der Atlantiküberquerung zu verhungern. Ihre Skelette allerdings wurden bislang nicht gefunden, und von Aalfriedhöfen ist nichts bekannt.
    Niemand glaubt heute mehr, dass Aale einfach so aus dem Schlamm kriechen. Alle Forschungen zur Fortpflanzung von Tieren ergeben, dass eine gewisse räumliche Nähe zwischen Eltern und Kindern vorhanden sein muss, jedenfalls ganz am Anfang. Trotzdem fehlt bei Aalen jeder Nachweis einer Verbindung zwischen den Generationen. Die kleinen Aallarven entstehen scheinbar aus dem Nichts. Gleichzeitig verschwinden die erwachsenen Aale spurlos in der Sargassosee. Verwandeln sich die Eltern einfach wieder zurück in Larven? Ist der Aal somit unsterblich? Es ist ein großes Rätsel. Genau dasselbe Problem stellt sich übrigens bei den asiatischen Aalen. Man kennt oft die Herkunft der Aale, man kann nachvollziehen, wie die Larven ins Süßwasser kommen, man weiß, dass die Erwachsenen ins Meer und zu den Laichplätzen zurückkehren, aber der letzte Schritt, die eigentliche Fortpflanzung, die Verbindung zwischen Mutter, Vater und Larven, fehlt. Aalforscher müssen sich so ähnlich fühlen wie kleine Kinder,

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