0851 - Wir jagten das bleiche Gesicht
Jochem hatte seine Hände in den Taschen vergraben. Er bewegte den Kopf, denn ihm war die Reaktion des anderen Mannes aufgefallen. »Hast du was, Harry?«
»Nein, schon gut.«
Jochem ließ nicht locker. »Du bist zusammengezuckt wie unter einem Nadelstich.«
»Stimmt.«
»Einfach so?«
Harry Stahl lächelte. »Die Nerven, Franz. Es sind die Nerven gewesen. Auch ich werde allmählich nervös.«
Sein Nebenmann stöhnte auf. »Das kannst du mehr als laut sagen. Ich wünsche mich kilometerweit weg. In einer ruhigen Kneipe sitzend, einen Schnaps nuckeln, ein Bier schlürfen, das wäre herrlich.«
Harry klopfte ihm auf die Schulter. »Kannst du alles haben, Franz. Wenn du willst, sofort. Schließlich haben wir unser Ziel erreicht.«
»Sehr richtig, unser.«
»Was heißt das?«
»Daß ich alter Mann verflucht neugierig geworden bin, wie der Spuk weitergeht.«
Mit dem Wort Spuk hatte Jochem direkt ins Ziel getroffen. Die Gedanken des Detektivs glitten zurück in die nahe Vergangenheit.
Er konnte noch immer nicht richtig nachvollziehen, daß er wieder am Ball sein sollte und möglicherweise dicht vor der Rehabilitierung stand.
Begonnen hatte alles mit dem Besuch eines gewissen Gregor Schmidt, eines Mannes, der für die Regierung arbeitete, was immer das auch bedeuten mochte. Jedenfalls war dieser Schmidt erschienen und hatte dem ehemaligen Kommissar eine sehr ungewöhnliche, aber durchaus wahre Geschichte erzählt. Er hatte von einem gewissem Franz Jochem berichtet, einem ehemaligen Aufpasser und Kalfaktor in einem DDR-Gefängnis, dem schlimmsten überhaupt, dem Haus X. In diesem Haus X waren Menschen gefangengehalten, gefoltert und getötet worden. Jahre nach der Auflösung hatte es eben diesen Franz Jochem wieder an seine alte Wirkungsstätte hingezogen, so eine Art Vergangenheitsbewältigung. In der Todeszelle, auch Waschküche genannt, war eben diesem Franz Jochem nicht nur eine dämonische Fratze erschienen, sondern auch der Geist einer getöteten Frau, deren Name Rita Reinold gewesen war.
Der gute Franz Jochem hatte sich dermaßen erschreckt, daß er zur Polizei gelaufen war, um dort seine Aussagen zu machen. Sie waren protokolliert und nach »oben« weitergegeben worden, und dort hatte man auf die Aussagen des ehrlichen und auch glaubwürdigen Zeugen reagiert. Eben dieser Gregor Schmidt hatte dem ehemaligen Kommissar Harry Stahl einen Besuch abgestattet, denn trotz dessen Suspendierung vom Dienst wegen einer nicht ganz geklärten Sache, hatte man sich auch an dessen Verdienste erinnert, die er sich zusammen mit Kollegen aus London erarbeitet hatte.
Harry Stahl war zu einem Spezialisten für okkulte Fälle geworden. Nach der Wende hatte ein Fall John Sinclair in das geeinte Deutschland geführt, da waren die beiden zum erstenmal zusammengetroffen und hatten den Fall des Leichenfürsten geklärt. In den folgenden Jahren war es zwischen den beiden zu einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit gekommen, bis zu dem Tag, als der Kommissar angeblich einen Fehler begangen hatte.
Der aber war für die offiziellen Stellen plötzlich vergessen, denn Harry wurde gebraucht.
Und er hatte zugestimmt. So war er dann mit Franz Jochem zusammengetroffen. Gemeinsam hatten die beiden den Fall angegangen und hatten die Spur zum erstenmal in der Todeskammer des Hauses X aufgenommen. Dort war es dann passiert.
Es war ihnen nicht der Geist der Toten begegnet, dafür hatten sie die dunkle Fratze in der Wand gesehen und auch etwas über eine furchtbare Rache gehört.
Beide hatten nachgedacht und waren zu dem Entschluß gelangt, daß sich ein Geist an denjenigen Personen rächen würde, die den Menschen damals so fürchterlich gequält hatten, so daß er schließlich gestorben war.
Franz Jochem, einer der wenigen menschlichen Wärter hatte sich natürlich an zahlreiche Namen erinnert und sie auch in einer Liste zusammengefaßt, die in Harrys Gesäßtasche steckte. Ganz oben auf dieser Liste stand der Name Egon Kraft. Er war der Chef im Todesbunker gewesen, der Anführer, einer, der nicht nur Befehle gab, sondern sich auch Opfer ausgesucht hatte, um sie eigenhändig zu töten, wie es bei Rita Reinold ebenfalls der Fall gewesen war.
Egon Kraft!
Er war es, der in dem alten Backsteinhaus vor ihnen in der dritten Etage wohnte, wie die beiden Männer anhand des Klingelbretts festgestellt hatten.
Gesehen hatten sie ihn noch nicht. Zumindest hatte er sich hinter keinem der Fenster blicken lassen. Es waren zwar Bewohner aus dem Haus
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