Liebe am Don
Straßenrand liegen lassen wie die Zehntausende vor ihnen. Aufeinandergeschichtet, Prellsteine aus Leibern, Leitplanken, die die Richtung weisen: Dort hinten ist die Hölle!‹« Bodmar senkte den Kopf und starrte auf den dunkelroten Afghanteppich, der das Zimmer ausfüllte. »Der Brief wurde nicht beschlagnahmt. Ein Freund meines Vaters brachte ihn mit … sechs Jahre hatte er ihn durch die Gefangenschaft geschleppt, versteckt im rechten Stiefel. Die Schrift war vom Schweiß fast zerfressen.«
»Genau das ist es, worauf die Russen allergisch reagieren.« Der Attaché beugte sich wieder über die Karte. »Wann wollen Sie losfahren?«
»So schnell wie möglich.«
»Wo wohnen Sie in Moskau?«
»Im ›Ukraina‹. Ich werde hingebracht. Mein erster Weg vom Flughafen war zu Ihnen.«
»Hingebracht?« Der Attaché hob ruckartig den Kopf. »Sie sind nicht allein?«
»Nein. Ein entzückendes Mädchen von ›Intourist‹ wartet vor dem Haus im Wagen. Eine Kratzbürste, sage ich Ihnen, bei der man jeden Stachel liebkosen möchte.«
»Dachte ich's mir doch. Eine Frau. Lieber Bodmar, ein guter Rat unter Kollegen: Das gefährlichste in Rußland sind die Frauen! Hüten Sie sich vor ihnen. Die Liebe einer Dolmetscherin von ›Intourist‹ ist eingeplant, steht auf der Betreuungsliste – vergessen Sie das nie! Auch wenn sie bei Ihnen im Bett liegt und noch so zärtlich ist … am nächsten Morgen schickt sie ihren Bericht zum Distriktsleiter. Wer ist das Mädchen im Wagen?«
»Sie nennt sich Jelena Antonowna Dobronina.«
Der Presseattaché holte vom Schreibtisch einen Notizblock und einen Kugelschreiber und notierte sich den Namen.
»Sie holte Sie am Flughafen ab?«
»Ja. Sie übergab mir das zur Verfügung gestellte Auto, alle Papiere, die Schlüssel, ein Schreiben des Innenministeriums für Kontrollen auf den Landstraßen und in den Städten, wechselte in Scheremetjewo meine D-Mark in Rubel um, regelte die Formalitäten mit dem Zoll und den Fragebogen am Einreiseschalter, alles in allem – sie betreute mich wie eine Henne ihre Küken.«
»Oder wie eine Schlange das Kaninchen, ehe sie es auffrißt. Mein Lieber – Vorsicht, sage ich! Liebeleien sind hier halsbrecherisch.«
»Nicht bei Jelena. Eine Ohrfeige habe ich schon weg. Genau unter dem Mahnmal des deutschen Angriffs auf Moskau.«
»Sehr sinnig.« Der Attaché lächelte süßsauer. Für ihn war die Situation, in die Bodmar die Deutsche Botschaft und vor allem die Pressestelle gebracht hatte, alles andere als humorvoll. Er lebte seit drei Jahren in Moskau und kannte mittlerweile alle Eigenheiten seiner Kollegen im Kreml. Der ›Fall Bodmar‹ war deshalb völlig widersinnig. Das große Kopfzerbrechen würde anhalten bis zur Rückkehr Bodmars nach Köln an seinen Redaktionstisch. »Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und noch eins, lieber Kollege: Wir können nichts für Sie tun, wenn Sie verbotene Objekte fotografieren und dafür in irgendeine Zelle gesteckt werden. Wir können auch nichts für Sie tun, wenn man Sie dann wegen Spionage anklagt und verurteilt. Sie kennen die Grenzen, die man Ihnen trotz aller Freizügigkeit setzt. Überschreiten Sie sie, sind Sie verloren. Sie sind nicht der Typ, der zehn Jahre Zwangsarbeitslager in Bleibergwerken aushält oder bei vierzig Grad Kälte Straßen baut. Das halten Sie sich immer vor Augen, wenn Sie die Kamera ans Auge heben … oder wenn Sie in den Armen irgendeiner Jelena besonders glücklich sind. Die Liebe der russischen Frauen ist wie ein heißer Steppenwind …«
Bodmar verließ die Deutsche Botschaft nach knapp einer Stunde. Er traf Jelena Antonowna im Wagen sitzend an. Sie rauchte eine Papyrossa und las in einem Buch. Die Zeit schien ihr nicht lang geworden zu sein. Warten ist in Rußland eine Tugend. Noch nie spielte dort die Zeit eine große Rolle. Die Weite des Landes macht eine Uhr zur Spielerei. Man ist gewohnt, in Generationen zu denken.
»Da bin ich wieder!« rief er fröhlich und riß die Tür auf. Jelena klappte das Buch zu. Ihr bisher gelöstes Gesicht wurde wieder hart. »Haben Sie mich vermißt?«
Jelena Antonowna antwortete nicht. Sie warf das Buch mit einem Schwung auf den Rücksitz und wischte mit einer sehr müden Bewegung über das kurzgeschnittene schwarze Haar. Es war eine Geste der Resignation und ein stummer Ausdruck: Es lohnt sich nicht, darauf zu antworten.
»Ich habe Sie sehr vermißt, Jelena«, sagte Bodmar. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten … aber die Stunde da drinnen
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