Liebe braucht keinen Ort
hatte.
Im Abstreifraum fand sie eine leere Kapsel, wählte ihre Lichtstärken und programmierte die Geräusche und Bilder. Manche Empathen legten sich zum Abstreifen gerne hin, andere zogen es vor, sich im Schneidersitz auf den Boden zu setzen. Für Liza taten es ein ganz gewöhnlicher Tisch und Stuhl. In der Kapsel ließ sie die Arme locker an der Seite hängen, schloss die Augen und ließ ihren Kopf nach vorne sinken, als wäre er eine schwere Blume. Dann begann sie die Brücke zum Heilen zu bauen, jene unsichtbaren Energiewellen zu verknüpfen, die sie mit jedem ihrer Patienten verbanden und sie im Laufe ihrer Schicht der Reihe nach zu jedem von ihnen hinziehen würden. Jeder Empath baute diese Brücken auf seine ganze eigene Weise auf. Liza fing damit an, dass sie sich vorstellte, Zauberbohnen in die Dunkelheit zu schleudern, die sich zu einem raschen Wirbel von Ranken und Blättern entwickelten – in einer anderen Farbe für jeden Patienten. Wenn die Ranken zu leuchten begannen, umwehte sie beinahe immer ein Hauch von glitzerndem Nebel. Liza spürte, wie ihre Schultern, ihre Ellbogen und ihre Handgelenke – in ihrer Visualisierung Orangen, Zitronen und Limetten – schwer wurden und wie all die Dinge, die zu ihrem alltäglichen Ich gehörten, durch ihre Fingerspitzen davonströmten.
Vierzig Minuten später, als sie sich gerade auf den Weg zur Kinderstation machte, holte Piper Simms sie ein.
»Dr. Morgan braucht dich in der Notaufnahme, Zimmer zwei«, sagte sie knapp.
Liza redete zwischen dem Ende ihres Abstreifvorgangs und dem ersten Patienten nicht gern. Dabei hätte zu viel von ihrereigenen Persönlichkeit wieder in den Freiraum zurückströmen können, den sie in sich geschaffen hatte.
»Kann das nicht warten? Ich bin unterwegs zu einem neuen Patienten. Ein nachwachsendes Bein.« Liza konnte ihre Ungeduld kaum verbergen. Nachwachsende Beine bei Kindern hatte man eher selten zu behandeln. Sie war gespannt auf diese neue Erfahrung.
»Den Fall mit dem Bein haben sie jemand anderem übertragen.« Piper hielt ihr ihren Palmtop hin, damit sich Liza den Bildschirm mit den Patientenlisten ansehen konnte. »Mir.«
Sie hätte nicht so triumphierend schauen müssen, dachte Liza. Vor drei Jahren, als Liza mit der Ausbildung angefangen hatte, war Piper die beste Empathin in der Abteilung gewesen. Jetzt hatte sie Probleme mit Burnout und schien jede neue Klasse von Empathen, die auftauchte, mit großem Widerwillen zu betrachten, ganz besonders aber Liza. Pipers kleine gemeine Sticheleien hatten sich so sehr gehäuft, dass Liza schon mit ihrer Beraterin darüber gesprochen hatte.
»Empathenneid«, hatte die ihr erklärt. »Piper weiß genau, dass du eine ebenso gute Empathin werden kannst, wie sie einmal eine war.«
»Aber ich mache Fehler. Mir entgehen so viele Dinge.« Dann hatte Liza ein wenig gestutzt. »Warum hast du
war
gesagt?«
»Wie bitte?«
»War. Du hast gesagt, ich könnte so gut werden, wie sie einmal
war
.«
»Ah.« Die Beraterin war nachdenklich geworden. »Nun ja, Piper ist drei Jahre älter als du und leidet an einer Krankheit, die für alle Empathen gefährlich ist. Sie hat sich verliebt.«
Damals hatte Liza zum ersten Mal gehört, wie ungeheuer stark sich persönliche Bindungen auf ihre Arbeit auswirken konnten.Starke Gefühle, Hass genau wie Liebe, konnten die Fähigkeit einer Empathin, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, völlig zerstören. Piper tat Liza wirklich leid.
»Bekommt sie ihre Fähigkeiten je zurück? Ich meine, wenn sie heiratet und alles wieder in geregelten Bahnen läuft, wird sie dann wieder die Beste werden?«
»Manchen gelingt das«, hatte die Beraterin geantwortet. »Manche verlieren ihre Fähigkeiten völlig, andere haben ihr Leben lang damit zu kämpfen. Man kann das nicht vorhersagen. Piper wird immer eine gute, sogar eine begabte Empathin sein. Aber so gut, wie sie einmal war? Das muss die Zukunft zeigen. In der Zwischenzeit solltest du immer versuchen, sanft mit einer Empathin umzugehen, die leidet. Eines Tages könnte es auch dich treffen.«
Das glaubte Liza allerdings nicht. Sie hatte nicht die Absicht, sich zu verlieben – ganz besonders jetzt nicht. Sie war in den Schlafsaal zurückgerannt, um den anderen zu erzählen, was sie gerade erfahren hatte. Und musste zu ihrer großen Verlegenheit herausfinden, dass es außer ihr alle anderen bereits wussten, weil alle sich auch schon einmal verliebt hatten und die Liebe, wie sie ihr erklärten, einfach die
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