Liebe braucht keinen Ort
Kapitel 1
Abstreifen
Liza zögerte kurz, bis nach einer Sekunde das blaue Licht auf Grün wechselte, dann ging sie durch den Torbogen und in den Wartebereich der Notaufnahme. Sie winkte Omar am Empfang zu.
»Hallo, Kiefernzapfenmädchen«, rief der ihr hinterher. Er nannte sie nun schon seit drei Monaten so, obwohl die unglückselige Frisur, für die sie sich damals entschieden hatte, schon beinahe ganz wieder herausgewachsen war. Es machte ihr jedoch nichts aus, dass er sie ein bisschen aufzog. Er hatte ein gutes Herz, und das konnte sie in allem spüren, was er sagte.
»Hallo, Omar.«
»Wieso arbeitest du denn schon wieder an einem Freitagabend?«
Liza lächelte. »Ich hab wahrscheinlich einfach Glück.«
»Mit den Jungs kann heutzutage was nicht stimmen. An einem Freitagabend, da solltest du ausgehen und dich amüsieren. Und dir fällt kein besserer Ort ein?«
»Sieht ganz so aus.« Liza ging schnell weiter, damit er ihr Lächeln nicht bemerkte. Es war ihr fast ein wenig peinlich, dass sie ihren Job so mochte. Omar konnte es nicht wissen, aber er hatte ins Schwarze getroffen: Dies hier war der beste Ort, zumindest für Liza und auch an einem Freitagabend.
Der Warteraum war voller Menschen. Liza spürte das leichte Kribbeln und die Unruhe des üblichen freitäglichen Wahnsinns um sich herum. Vielleicht mehr Wahnsinn als sonst, weil die ersten langen Frühsommertage endlich gekommen waren. Kurz vor Mitternacht würde der Wahnsinn seinen Höhepunkt erreichen und dann allmählich verebben, wenn all die Energie und die Streitereien und die wilden Aktivitäten langsam abnahmen. An Freitagen war die Arbeit immer wie ein Drahtseilakt und ging nur langsam in den Frieden des Samstagmorgens über.
Liza schaute auf ihren Arbeitsplan, während sie ihren weißen Kittel überzog. Sie balancierte auf einem Fuß und las die Informationen auf dem Bildschirm an der Innenseite ihrer Spindtür. Zu ihrer Bestürzung sah sie, dass Ellie Hart, die vor einigen Monaten eine neue Lunge erhalten hatte, mit einer Infektion und extremer Erschöpfung wieder eingeliefert worden war. Die hohen Werte für die weißen Blutkörperchen und die Enzymlevels sahen auch nicht gerade gut aus. Plötzlich wurde Liza das Herz ganz schwer.
Jeder wusste, dass man keine Lieblingspatienten haben sollte, aber jeder wusste auch, dass man manchmal gar nicht anders konnte. Liza und Mrs Hart hatten sich sofort blendend verstanden, vielleicht weil Mrs Hart genau wie Liza Amerikanerin war und nun in London lebte, vielleicht aber auch, weil sie an genau dem gleichen Tag geboren waren, allerdings mit hundert Jahren Abstand. Liza glaubte allerdings, dass es mehr mit Mrs Hart selbst zu tun hatte. Bei ihrer ersten gemeinsamen Sitzung hattesie aufrecht im Bett gesessen, im üblichen Krankenhausnachthemd und mit Unmengen von Diamanten behängt – am Hals, an den Ohrläppchen, an beiden Handgelenken, und Liza meinte sogar, ein Glitzern in Mrs Harts Haaren gesehen zu haben.
»Ganz schön protzig, nicht?«, fragte Mrs Hart lächelnd. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Das sind meine Glücksbringer.«
Liza konnte sich nicht vorstellen, je so viele Diamanten zu besitzen. Vielleicht hatte Mrs Hart in irgendeinem Buch gelesen, dass Diamanten eine heilende Wirkung hatten, und sich welche geliehen. Die Leute kamen mit allen möglichen irrigen Ideen in die Sitzungen. Die Diamanten hatten einen strahlenden, goldenen Schimmer, als läge tief in ihnen Sonnenlicht verborgen. »Sind die echt?«
Mrs Hart lachte glucksend – ein gutes Zeichen, wenn jemand gerade eine Transplantationsoperation hinter sich hatte. »Großer Gott, nein. Aber die Fassungen sind echt. Ich habe sie selbst entworfen.«
»Das kann ich gar nicht glauben.«
»Doch, na klar«, erwiderte Mrs Hart und streckte ihr einen mit Armbändern geschmückten Arm hin. »Fass sie mal an«, forderte sie Liza auf.
Liza berührte den Schmuck und spürte sofort, wie sie von großer Freude durchflutet wurde. Von Freude und noch etwas anderem. Was war das? Sie schloss die Augen. Die Gefühle waren ziemlich kompliziert, verworren und verheddert wie ein Wollknäuel.
»Mein erster großer Erfolg als Schmuckdesignerin«, erklärte Mrs Hart, »und gleichzeitig mein letzter. Die Neptun-Diamanten.«
Liza zuckte zusammen und zog rasch die Hand weg. Natürlich. Der goldene Schimmer hätte es ihr eigentlich verraten müssen.Jeder wusste von den Neptun-Diamanten – Diamanten, die vom Sonnenlicht
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