Die Lady auf den Klippen
Kapitel 1
1822, im März
Zweihundertachtundzwanzig Verehrer, dachte sie, liebe Güte – wie soll ich damit umgehen, geschweige denn mich entscheiden?
Blanche Harrington stand allein vor einem der übergroßen Fenster in einem kleinen Salon. Gleich würden die Besucher in das große Empfangszimmer strömen. Genau an diesem Morgen waren die schwarzen Vorhänge abgenommen worden, die anzeigten, dass sie noch trauerte. Acht Jahre lang war sie einer Heirat aus dem Weg gegangen, aber selbst sie wusste, dass sie nach dem Tod ihres Vaters einen Ehemann brauchte, der ihr half, ihr beträchtliches und nicht ganz unkompliziertes Vermögen zu verwalten.
Doch sie fürchtete sich vor dem Ansturm ebenso sehr, wie sie sich vor der Zukunft fürchtete.
Ihre beste Freundin eilte herein, mit einem dramatischen Auftritt. „Blanche, Darling, wo bleibst du denn? Gleich werden wir die Türen öffnen!“, rief sie aufgeregt.
Blanche starrte durch das Fenster auf die gewundene Auffahrt. Vor vielen Jahren war ihr Vater mit dem Titel eines Viscounts belohnt worden, nachdem er mit Manufakturen ein unvorstellbares Vermögen erworben hatte. All das war so lange her, dass niemand mehr in ihm einen Neureichen sah. Blanche hatte nie ein anderes Leben gekannt als das in Reichtum und Überfluss, voller Privilegien. Sie war eine der reichsten Erbinnen des Empires, doch vor acht Jahren hatte ihr Vater ihr gestattet, eine Verlobung zu lösen. Und obwohl er nie aufgehört hatte, sie mit Verehrern bekannt zu machen, hatte er sich gewünscht, dass sie aus Liebe heiratete. Was natürlich eine absurde Vorstellung war.
Nicht, weil niemand aus Liebe heiratete. Die Vorstellung war deshalb absurd, weil Blanche um ihre Unfähigkeit wusste, sich zu verlieben.
Aber sie würde heiraten, denn obwohl Harrington zu schnell gestorben war, um noch einen letzten Wunsch zu äußern – er war ganz plötzlich an einer Lungenentzündung erkrankt –, wusste Blanche, dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als sie in einer sicheren Ehe mit einem ehrbaren Gentleman zu sehen.
Drei Dutzend Kutschen entstellten die schöne Auffahrt. Vor sechs Monaten hatte es fünfhundert Beileidsbesuche gegeben. Von den zurückgelassenen Karten hatten zweihundertachtundzwanzig heiratsfähigen Junggesellen gehört. Wie viele davon mochten wohl Taugenichtse sein, die nur ihr Geld wollten? Blanche gefiel diese Vorstellung nicht, doch sie hatte einen Entschluss gefasst. Da sie schon vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben hatte, irgendeinen Mann zu lieben, beabsichtigte sie nun, aus dieser Menge einen anständigen, vernünftigen, ehrenhaften Mann auszuwählen.
„Oh Liebes.“ Bess Waverly trat zu ihr. „Du grübelst – ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst. Wir sind Freundinnen, seit wir neun Jahre alt waren! Bitte sag nicht, dass ich alle wegschicken soll, nachdem ich verkündet habe, dass deine Trauerzeit vorüber ist! Hat es denn Sinn, weitere sechs Monate zu trauern? Du würdest das Unvermeidliche doch nur hinausschieben.“
Nachdenklich sah Blanche ihre beste Freundin an. Sie waren so verschieden wie Tag und Nacht, und das war einer der Gründe, warum sie so sehr aneinander hingen. Bess hatte eine Vorliebe für dramatische Auftritte, war lebhaft und lebenslustig. Sie hatte bereits den zweiten Ehemann und mindestens den zwanzigsten Geliebten, und sie machte kein Hehl daraus, dass sie das Leben in vollen Zügen genoss, und dazu gehörte so viel Leidenschaft wie nur möglich. Blanche war beinahe achtundzwanzig Jahre alt, hatte sich bis jetzt entschieden, nicht zu heiraten, und sie war noch Jungfrau. Sie fand das Leben recht angenehm, ging gern im Park spazieren, mochte Einkaufsbummel und Tee, die Oper und die Bälle. Aber sie kannte keine Leidenschaft und wusste nicht, wie sich das anfühlte.
Ihr Herz schlug zwar, aber es empfand keine heftigen Gefühlsregungen.
Die Sonne schien für sie gelb und niemals golden. Eine Komödie war amüsant, niemals mitreißend. Schokolade war süß und ein kurzer Genuss. Ein Mann konnte gut aussehen, aber keiner raubte ihr den Atem. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich nach einem Kuss gesehnt.
Vor langer Zeit schon hatte sie erkannt, dass sie nicht die Leidenschaft für das Leben besaß, die eine Frau haben sollte. Aber andere Frauen hatten auch nicht im zarten Alter von sechs Jahren ihre Mutter verloren. An jenem Wahltag war sie bei ihrer Mutter gewesen, doch
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