Liebe braucht keinen Ort
gestört. Sie hatte sich noch nie jemandem gegenüber so offen gefühlt. Sie war fest entschlossen, ihre Gelassenheit wiederzugewinnen.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Liza, die Empathin, die man dir zugeteilt hat.«
»Ich bin David Sutton und mache hiermit die Zuteilung wieder rückgängig.« Beim Lächeln zog er ein wenig die Augenbrauenhoch, als lüde er sie ein, mit ihm über seinen Scherz zu lachen. Doch als er sie dann anschaute, veränderte sich sein Lächeln und er bekam einen völlig anderen Gesichtsausdruck. Anstatt vom Krankenhausbett zu springen, blieb er sitzen. Alles an ihm schien zur Ruhe zu kommen, und dann schwebte das ganze Zimmer in eine große Stille, wie wenn ein Blatt oder eine Feder zu Boden fällt. Einen langen Augenblick starrte er sie einfach nur an, und Liza gestattete ihm das, ohne sich zu bewegen oder ihr Gesicht gegen seinen Blick zu verschließen.
Es war nicht einfach, sich von jemandem so anschauen zu lassen, aber viele Patienten schienen das zu brauchen.
»Es ist, als würde jemand mit seinem Auto eine Probefahrt machen«, hatte ihre Ausbilderin ihnen erklärt, »nur dass ihr das Auto seid.« Sie hatten alle gelacht, aber das machte die Sache nicht einfacher. Fünf in der Klasse hatten aufgegeben, weil sie es nicht schafften, sich so anschauen zu lassen, ohne zu posieren oder unruhig zu zappeln. Es war viel schwerer, als es klang. Zunächst hatte sich Liza so nackt und bloß gefühlt, wenn sie vor einem Patienten stand, dass sie sich ablenken musste, indem sie im Kopf Listen von Liedertiteln aufstellte, die mit bestimmten Buchstaben des Alphabets anfingen, oder überlegte, wieso zweihundert Jahre alte Filme wie
Titanic
oft so viel besser waren als die Remakes als Hologramm. Jetzt, da sie mehr Selbstvertrauen hatte, hatte sie begonnen, diese kleinen Zeiträume dazu zu nutzen, schon einmal die heilende Brücke zum Patienten aufzubauen.
Aber heute Abend passierte das nicht. Sie hatte Schwierigkeiten damit, ihre innere Ruhe wiederzufinden, und sie fühlte sich so nackt und bloß wie damals, als sie zum ersten Mal einem Patienten gegenübergestanden hatte. Kaum hatte sie die Fundamente für ihre Brücke gelegt und begonnen, die unsichtbarenblauen Ranken durch die Luft zu werfen, da zerkrümelten sie auch schon und verschwanden aus ihren Gedanken.
David Suttons Augen ruhten noch immer auf ihr. Sie fühlte, wie ihre Haut warm wurde, und versuchte, an Liedertitel zu denken, die mit dem Buchstaben A begannen. Es gelang ihr nicht, also ging sie zum Buchstaben B über. »Bitter Poison«, »Borrowed Time«, »Been Around and Down«, »Boomdance«. Normalerweise brauchten Patienten weniger als dreißig Sekunden, bis sie zufrieden waren, aber nun war schon über eine Minute vergangen und Liza spürte seinen Blick immer noch.
Plötzlich lächelte er wieder. »Du bist eine von uns«, sagte er.
Was sollte das denn heißen? Vielleicht hatte Dr. Morgan recht, und dieser Patient hatte wirklich ein subdurales Hämatom. Sein Gehirn zeigte wohl bereits die Auswirkungen des Sauerstoffmangels. Oder meinte er damit, dass er ebenfalls ein Empath war? Das würde das vibrierende Energieband erklären, das sie zwischen sich und ihm verspürte.
Er sprach weiter. Diesmal flüsterte er beinahe, und die Worte kamen so rasch und leise, dass sie nicht einmal feststellen konnte, welche Sprache das sein mochte.
Die Sache verlief überhaupt nicht wie geplant, und Liza versuchte verzweifelt, sie wieder auf Kurs zu bringen. »Dr. Morgan meinte, wir sollten uns ein paar Minuten unterhalten.«
»Prima. Ich hole nur meine Sachen, dann können wir gehen.« Er grinste. »Zu dir oder zu mir?«
Gut. Er war also doch nicht so seltsam, er wollte nur flirten. Damit hatte sie reichlich Erfahrung.
»Dr. Morgan wollte, dass ich herausfinde, ob es dir gut geht. Laut deiner Krankenakte warst du bewusstlos, als man dich eingeliefert hat, mit einer ziemlichen Beule an der Stirn.«
Er schaute verwirrt. »Wer bist du noch mal?«
Konnte er das leuchtende Blau ihres Namensschilds nicht sehen? »Liza McAdams, Empathin. Ich kann dir mit der Prellung an deiner Stirn helfen.«
Plötzlich verspürte sie ein heftiges Rucken an dem Energiefeld zwischen ihnen. Er riss seinen gesamten Körper zurück, als wollte er sich außer Reichweite bringen. Das Licht, das sie gefühlt hatte oder zu fühlen gemeint hatte, war verschwunden.
»Du kannst Gedanken lesen?« Er wirkte verstört, beinahe wütend. »Nein, danke. Wenn ich möchte,
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