Liebe in Zartbitter
an Hendrik Würtz.
„Lass uns so schnell wie möglich abreisen, Pascha“, fordert sie.
„Das geht nicht, Schatz, ich muss mich um die Reisegruppe kümmern, bis Ersatz aus Deutschland eingetroffen ist, aber ich lasse dich keine Minute mehr aus den Augen“, verspricht er zärtlich.
Ich starre schuldbewusst in den leeren Pappbecher. Die Reisegruppe! Bei der ganzen Aufregung habe ich die alten Leutchen ganz vergessen. Und Fritze. Das ist einfach unverzeihlich.
André de Marville füllt erneut meinen Becher. Ich bedanke mich mit einem Lächeln und trinke ihn durstig aus. Unaufgefordert schenkt er nochmals nach. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten, jedenfalls ist es nicht mehr diese kalte, unverbindliche Diplomatenmiene.
XXXV.
Konsterniert legt der Assistent den Hörer zurück auf die Gabel. Er kann das eben Gehörte einfach nicht glauben. Seit fünf Minuten ist sein Chef überfällig und nun erhält er lediglich einen Anruf von ihm, der ihn davon in Kenntnis setzt, dass der Vize-Präsident weder heute noch morgen im Parlament erscheinen werde. Er solle die üblichen Protokolle der Anhörung anfertigen lassen und deren Verteilung überwachen. Ansonsten könne er die Blumen gießen und sich seiner Weiterbildung widmen.
Unglaublich. Verstört schaut sich de Marvilles Assistent in dem kleinen Raum um. Als ob es hier eine Blume oder Grünpflanze zu gießen gäbe. Und seine Weiterbildung hat er bereits vor Monaten erfolgreich abgeschlossen.
Er ist sicher, dass hinter dem unverständlichen Verhalten des peniblen pünktlichen und etwas trockenen Politikers eine Frau stecken muss, und was noch schrecklicher ist, er ahnt sogar welche.
„Sand im Getriebe“, flüstert er immer wieder entgeistert.
Darin unterbrochen wird er erst als es an die Tür klopft und ein adrett gekleideter junger Mann den Raum betritt.
„Ich bringe die Übersetzungen der Anhörung von gestern“, erklärt er, und breitet einen Stapel Papiere vor dem Mitarbeiter aus. „Ihr Chef ist wohl nicht da?“, fragt er harmlos.
Es ist Jean-Paul Dumont, der beschlossen hat, den Stier bei den Hörnern zu packen und herauszubekommen, ob ihn der Vize-Präsident wiedererkennen würde.
Während Christian Tulip relativ beruhigt seiner Arbeit nachgehen kann, plagt den jungen Franzosen das schlechte Gewissen. Seit er am vergangenen Abend den Bus aufgebrochen und leer vorgefunden hat, ist er nicht mehr zur Ruhe gekommen. Er hat sich einfach Gewissheit verschaffen müssen.
„Versuchen Sie es in zwei Tagen noch einmal.“ Sein Gegenüber zuckt die Schultern. „Der Herr Vize-Präsident macht blau“, entfährt es ihm ungewollt, dann nimmt er sich zusammen. „Wenn Sie etwas Bestimmtes von Monsieur de Marville wollen, geben Sie mir Ihre Apparat-Nummer. Ich informiere sie gern, wenn er im Büro ist und einen Moment Luft hat.“
„Es eilt nicht“, wiegelt Dumont ab und verabschiedet sich hastig.
Kopfschüttelnd schaut ihm der Assistent nach.
XXXVI.
Ich erwache mit einem Brummschädel im Bett meines Hotelzimmers. Wie ich da hineingekommen bin, kann ich beim besten Willen nicht sagen.
Mein Mund ist trocken. Ich erhebe mich mühsam. Aus der kleinen Hausbar entnehme ich ein gekühltes Wasser und stürze es in einem Zug hinunter. Das tut gut!
Meine Erinnerungen an den gestrigen Nachmittag kehren nach und nach zurück. Doch ist es wie bei einem Puzzlespiel. Wichtige Teile fehlen, es ergibt sich kein schlüssiges Bild.
Nach einem Blick auf die Uhr schleiche ich ins Bad. Das einzige, was mir hilft, ist eine kalte Dusche. Eine eiskalte.
Prustend lasse ich das Wasser über meinen Körper rieseln. Das tut gut.
Ich kann mir viel Zeit dabei lassen. Hendrik hat gesagt, ich sei freigestellt und brauche mich nicht um die Reisegruppe zu kümmern.
Hendrik? – Keine Ahnung, wer auf diese Idee gekommen ist, aber irgendwann habe ich mit Hendrik und André Brüderschaft getrunken. Mit Elena auch. Mit der habe ich mich erstaunlicherweise später noch ganz angeregt unterhalten während sie ihrem ‚Pascha‘ nicht mehr von der Seite gewichen ist.
Und André?
Als ich daran denke, dass ich ihm schließlich doch den Witz über französische Sprachkenntnisse erzählt habe, schießt mir Röte ins Gesicht. Weniger wegen des Witzes selbst, sondern wegen seines Blicks, den er mir daraufhin zugeworfen hat.
Ich greife nach dem Handtuch und rubbele mir den Körper trocken.
In frischer Wäsche und mit einem Hauch Makeup im Gesicht fühle ich mich gleich viel
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