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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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EINS
    Die Taifune – das kantonesische Wort für »große Winde« – beginnen gewöhnlich Anfang April, Löcher in das Südchinesische Meer zu bohren, und sie schwellen bis zum Ende des Monats, wenn die See bereits die Temperatur von Badewasser hat und die Luftfeuchtigkeit zwischen neunzig und hundert Prozent beträgt, zu voller Stärke an. Alle meiden das Meer bei Taifunwarnung. Alle außer leichtsinnigen Narren, dachte Chan.
    Er warf einen Blick auf seine Uhr, ein Roleximitat, von dem an den Kanten bereits die Goldauflage abblätterte. Halb vier nachmittags. Ay-ya! Was als Such- und Bergungsaktion begonnen hatte, die nur ein paar Stunden dauern sollte, wurde nun zu einer gefährlichen Annäherung an rotchinesische Gewässer, die sich über den ganzen Nachmittag hinzog.
    Vom Bug der »Police 66 «aus, einem schnellen Motorboot der Royal Hong Kong Police Force, ließ er seinen Blick vom Meer zum Himmel schweifen. Dunkelheit türmte sich auf Dunkelheit. Manchmal befanden sich die Turbulenzen mehr als siebenhundert Kilometer weit weg, drückten aber trotzdem so finstere Wolken ganz in der Nähe herunter, daß man auch tagsüber kaum noch etwas sehen konnte. Diese Wolken hatten die gleiche Wirkung wie eine Sonnenfinsternis, doch sie dauerten länger und faszinierten niemanden.
    Neben ihm imitierte der vierundzwanzigjährige blonde Inspector Richard Aston seine Bewegungen.
    »Sieht nicht gut aus, Chief.«
    »Stimmt«, pflichtete ihm Chan bei.
    Im Widerspruch zu allen Führungsprinzipien verbarg Chan vor seinem jungen Kollegen nicht, daß er nervös war und nicht so recht wußte, was er als nächstes machen sollte. Alan, eine wirbelnde Windhose, hatte sich mehr als hundert Seemeilen im Südosten befunden, als sie losgefahren waren, und sich in Richtung Taiwan bewegt. Wenn der Taifun seinen gegenwärtigen Kurs beibehielt, würde er Hongkong knapp verfehlen, aber welcher Wirbelsturm ist schon berechenbar. Und welcher Taifun fordert nicht zumindest ein paar Menschenleben, besonders auf See.
    Eine frische Brise kam auf. Die ersten Schaumkronen tanzten auf den kurzen Wellen. Noch waren diese Schaumkronen klein, doch das konnte sich bald ändern. Chan brüllte dem Kapitän im Ruderhaus etwas auf Kantonesisch zu. Aston grinste süffisant.
    Chan sah ihn an. »Haben Sie das verstanden?«
    »Sie haben gesagt: ›Fahren Sie langsamer. Sehen Sie denn nicht, daß es hier finster ist wie in einer chinesischen Vagina.‹«
    Chan nickte. Es wunderte ihn nicht, daß ein junger englischer Polizist das Wort für das weibliche Geschlechtsorgan kannte; das lernten die Engländer gleich nach »danke« und »bitte«. Doch das Kantonesische war reich an Doppelbedeutungen, und der Kapitän hatte eine etwas andere Botschaft verstanden: Passen Sie auf, daß wir nicht zwischen die Schenkel von China geraten. Chan kannte sechs Millionen Menschen, die das gleiche gesagt hätten.
    »Wir sollten umdrehen«, sagte er ohne rechte Überzeugung.
    »Ja, wäre wohl vernünftiger. Wenn wir uns weiter hier rumtreiben, bläst’s uns vielleicht bis zum Perlfluß rauf.«
    »Sagen Sie so was nicht.« Chans Hand zitterte, als er sich eine frische Zigarette anzündete. »Sehen Sie ihn irgendwo?« fragte er.
    Aston spähte in die Düsternis.
    »Ehrlich gesagt, Chief, seh’ ich nicht die Hand vor Augen.«
    Chan verzog das Gesicht. »Aber er ist da irgendwo.« Er wandte sich der Kommandobrücke zu und rief auf Kantonesisch: »Wo sind wir jetzt?«
    »Nördlich der Soko Islands. Wir fahren mit drei Knoten in westlicher Richtung.«
    Alle an Bord begriffen die Anspannung in der Stimme des Kapitäns, denn ein Blick auf die Landkarte von Hongkong zeigt, daß die Gewässer der Volksrepublik China gleich westlich der Soko Islands beginnen. Es war nichts Ungewöhnliches, daß private und Handelsschiffe diese unsichtbare Grenze im Meer auf dem Weg nach Macau passierten, doch Uniformierten, besonders unter der Flagge der Queen, war dies untersagt. Die chinesische Marine, von jeher fremden Übergriffen gegenüber sensibel, hatte den Diebstahl Hongkongs durch britische Soldaten vor mehr als hundert Jahren noch immer nicht verziehen.
    »Ein durchsichtiger, sehr großer und haltbarer Plastiksack, wahrscheinlich mit grausigem Inhalt«, hatte der Tourist gesagt. Amerikanische Touristen gaben der Polizei im allgemeinen die präzisesten Beschreibungen. Sie hatten Übung darin.
    »Grausig?« Weder Chan noch Aston hatten die Aussage aufgenommen. Die Nachricht war vom örtlichen

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