Liebesbisse
dabei ist es gar nicht heiß. Manchmal kurbelt er das Fenster ganz herunter und gleich wieder hinauf, ihm ist kalt. Meine Hand auf seinem Schenkel, mein Kopf an seiner Schulter. Ich weiß, dass ich ihn nicht fragen darf, was er hat; ich tue so, als wäre nichts, und erzähle ihm, wo ich gern unsere nächsten Ferien verbringen würde. Ich dachte an Griechenland, ich werde einen schönen Ort für ihn finden, mit einer tollen Sicht und einem Hafen und direkt am Meer. Oder vielleicht in den Bergen. Aber ich fürchte, er könnte frieren.
Ich bin nicht krank, sagt er ganz leise.
Ich spielte mit dem Gedanken, zusammen mit anderen ein Haus zu mieten, doch die Leute würden ihn stören. Ich weiß, dass er vormittags nicht sehr gesprächig ist, manchmal schließt er sich nach dem Frühstück gleich wieder ein und wartet auf den Abend, vor dem Fenster stehend oder mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch liegend. Wenn es dunkel wird, geht er spazieren. Manchmal verläuft er sich draußen oder sitzt verloren auf einer Bank, was spielt das für eine Rolle? Doch seine Augen schweifen über die große Weite, er bleibt am Kai, am Ufer, fühlt, woher der Wind weht. Sein Herz ist krank, seine Seele leidend, aber er sagt, alles wäre in Ordnung. Beim Essen werden die Freunde ihn antreiben: Komm schon, gehen wir spazieren. Wie geht’s? Alles in Ordnung? Nichts ist in Ordnung, das ist eben so. Am Anfang dachte ich, es würde vorübergehen, ich zog den Karren, es hatte genügt, ihn zu lieben; aber es wird nie aufhören, der Schlamm ist gestiegen. Auch wenn es manchmal vorkommt, dass er während eines Atemzugs ein Danke haucht. Also wollen die Freunde nun mir helfen. Ihm geht es besser, ihm geht es gut, findest du nicht? Und du? Alles klar? Ich antworte ihnen mit einem Geräusch des Bauchs, des Rachens, dem Geräusch einer Ausgehungerten.
An der Raststätte will er volltanken. Er wartet kurz, bevor er aussteigt, ein blasses Kind, das jeder Schritt schmerzt. Ich wende mich ab, als hätte er mich geschlagen. Ich kann diesen angstgequälten Körper nicht mehr sehen. Wenn wir nebeneinander sitzen und er mich anfasst, spüre ich, dass nichts ihn von sich selbst ablenken kann. Manchmal frage ich mich, ob ihn nicht meine zartfühlende, aber fordernde Anwesenheit zum Schweigen zwingt.
Er ist gereizt, klopft mit dem Fuß auf den Boden – der Mann vor ihm sollte sich lieber mit dem Bezahlen beeilen, als Witze zu reißen. Er nimmt eine Packung Kuchen von der Theke, legt sie wieder hin, nimmt sie wieder, findet eine andere, weiter weg oder vielleicht auch eine vollere, er öffnet sie, isst, während er wartet, bis die Männer genug gescherzt haben. Das Geld fällt ihm hinunter, er bückt sich, um es aufzuheben, und packt den Mann, der ihm helfen will, wütend am Kragen. Er hält den Kopf noch immer gesenkt, dann kommt er zurück, den Kuchen drückt er an sich wie ein Kind sein Vesper; mit heraushängendem Hemd, krauser Stirn und zusammengepresstem Mund sieht er den Wagen an, lässt seinen Blick aber nicht auf dem Beifahrersitz verweilen. Er schlägt die Wagentür zu und zuckt bei dem Knall zusammen; wenn er den Schlüssel fallen lässt, wird er genervt und ungeduldig nach ihm tasten, ihn im Dunkeln suchen, unter seinem Sitz, unter den Pedalen, und wenn ich ihm helfen will, sagt er: nein, als fürchtete er, ich könne ein loses Teil berühren. Seufzend fährt er los. Ich frage, ob alles in Ordnung sei, damit er nicht antwortet. Und im Geiste unterschreibe ich die Erklärung, die ich jetzt abgeben will.
Weißt du, ich werde dich verlassen, sage ich, ohne ihn anzusehen. Er lächelt. Ich sehe es nicht, ich spüre es. Tränen steigen ihm in die Augen, große Tränen, die in seinen Augenwinkeln hängen wie heute Morgen die Rauchringe an der Decke.
Höhenflug
»Warum lesen Sie dieses Buch? Machen Sie eine Therapie? Ich habe damit aufgehört, als ich begriffen habe, dass ich aus sexuellen Gründen gekocht und aus krankhaften Gründen Sex gehabt hatte.«
Das Abendbrot wurde schon serviert. In einer Stunde würde man die Sichtblenden an den Flugzeugfenstern schließen. Dann würde ich im Dunkeln sitzen, neben dieser Frau, die Strümpfe und nie einen Schlüpfer trägt, wie sie mir gerade sagte.
»Ich bin in Houilles aufgewachsen, ›Ui‹ wird das ausgesprochen. Schon mal gehört? Toller Name, nicht wahr? Doch wenn ich Ihnen erzähle, wie oft ich ›Au‹ statt ›Ui‹ gesagt habe, ist das nicht mehr so witzig. Mein Elternhaus war voller
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