Liebesbisse
vielleicht in einer Bar.
»Ich habe meine Tochter Deb genannt, das bereue ich. Für mich war es die Koseform für Deborah, nicht aber für die anderen. Deshalb ist sie böse auf mich. Die Leute sind debil. Das bringt sie aus dem Gleichgewicht, sie hat so wenig Selbstvertrauen. Aber was tun? Manchmal frage ich mich, wie ich in diesem Punkt so einen Fehler machen konnte.«
Hätte ich eine Visitenkarte, würde ich sie ihr geben. Hinten würde ich den Namen eines Hotels oder einer Bar darauf schreiben.
»Haben Sie Kinder? Hatten Sie es mir schon gesagt? Ich weiß es nicht mehr … Ich jedenfalls bin heilfroh, dass ich nur eine Tochter habe. Diese Sache mit dem Penis hat mich doch ziemlich in Anspruch genommen, mit mehr Kindern hätte ich noch weniger Zeit gehabt. Ich mag meine Tochter sehr. Auch wenn sie mich enttäuscht. Zum Glück, denn sie hat niemand anderen.«
Ich werde es ihr schön besorgen auf ihrem kleinen Sitz.
»Außerdem – da ich nur ein Kind habe, habe ich für mein Alter immer noch eine tadellose Figur. Feste Schenkel, runde Hüften, aber immer noch eine schlanke Taille. Ich bin keine sogenannte Plunze.«
»Machen Sie Ferien, oder sind Sie beruflich unterwegs?«
»Bei mir ist alles Arbeit. Ich bin eine Biene. Ständig in Aktion. Fühlen Sie meinen Puls – er ist immer so hoch. Selbst nach dem Sex kommt er nicht zur Ruhe. Und Sie?«
»Ich? Es geht.«
»Was geht? Machen Sie Urlaub? Treffen Sie sich mit jemandem? Sie sind doch bestimmt homosexuell; da bin ich mir sicher. Homosexuell. Nicht mehr, nicht weniger.«
Antworten? Sie hatte ihre Reise beendet. Nun würde ich die meine beenden. Sie würde während des ganzen Fluges den Mund nicht mehr aufmachen und sich zu keinem Zeitpunkt mehr dafür entschuldigen, dass sie über mich gestiegen ist, um auf den Gang zu gelangen und Dehnungsübungen zu machen – den Hintern jedem entgegengestreckt, der ihn packen wollte, leckt sie, vornübergebeugt, aus dem Kragen ihres Kleids aus khakifarbenem Kammgarn heraus gierig meinen Arm auf der Lehne.
Mein Augenstern
Ihre Gabel ist abgerutscht, sie hat mich in die Schläfe gestochen, doch sie hatte es auf mein Auge abgesehen. Ein paar Stiche beim Arzt, ein bisschen Alkohol, ein Kuss, und es war vergessen. Seitdem blicke ich lieber auf meine Füße. Man lässt Frauen nicht nur leben, man lässt sie sogar reden und, schlimmer noch, man lässt sie auch noch auf die Straße. Doch es interessiert niemanden, dass meine Frau das nicht mehr ertragen kann. Sie schreibt an die Regierung, beschwert sich über die Frauen im Kabinett, beim Bürgermeister regt sie sich über aufreizende Kleidung in der Öffentlichkeit auf. Sollte man denn nicht endlich die Uniform einführen? Sie weiß, dass sie zu weit geht. Sie macht alles heimlich, aber ich finde ihre Briefentwürfe in kleinen Fetzen im Papierkorb.
Sie hat mich von allen meinen Freunden isoliert, weil sie sie an mein früheres Leben erinnerten. Sie hat Angst vor meiner Familie und den Anekdoten aus der Kindheit, die man sich so gern erzählt und zusammenfantasiert. Ach ja? Er hat immer seinen Nabel angefasst? Ist das wahr? Du hast deinen Nabel angefasst? Du weißt selbst, dass das widerlich war. Diese Schwäche für den Bauch hat ja eine lange Geschichte!
Eines ist klar: Wenn ich eine Zukunft haben will, muss ich jede Anspielung auf meine Vergangenheit vermeiden.
Was meine Freunde angeht, so hatte ich anfangs Schwierigkeiten, mich zu lösen. Ich telefonierte heimlich mit ihnen, manchmal traf ich mich sogar mit ihnen zum Essen. Doch eines Tages hat sie mich in einem Café gesehen. Ich fand sie dann am Fluss, in Tränen aufgelöst kauerte sie da, in ihren bittenden Augen funkelten zwei schöne Diamanten. Ein paar Stunden lang sagte sie gar nichts, sie weinte nur, saß da und wiegte sich wie ein Kind.
Ich beschloss, mit allem Schluss zu machen. Es hat keinen Sinn, sie anzulügen. Ich verbringe meine Zeit damit, zu überlegen, was ich sagen darf und was ich für mich behalten muss – und das wird zu kompliziert. Besser, ich zerbreche mir gar nicht erst den Kopf. Außerdem sind Freunde nicht unverzichtbar. Freundschaften sind natürlich wunderschön, aber, ehrlich, wenn man es sich genau überlegt, verschwendet man damit nur seine Zeit.
Vor Kurzem ist eine neue Nachbarin eingezogen. Gestern passte meine Frau sie im Treppenhaus ab, mit einem Stück Kuchen in der Hand, das sie umklammerte wie einen Kieselstein. Ich wollte es ihr ausreden, doch sie sagte, sie
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