Liebesbisse
bin, der sich nur hinsetzt und wartet, da ich ein verantwortungsbewusster, tatkräftiger Mensch bin, gehe ich zu einem Therapeuten. Lieben Sie einander noch?, fragt der Psychologe. Ich weiß nicht, ja, ein wenig, aber ich habe Angst, durch das Zusammensein mit ihm zu verblöden, sage ich. Das ist Ihre Angelegenheit!, erwidert er. Lieben Sie ihn, lieben Sie sich, lieben Sie die Welt, die ihn Ihnen zurückbringt. Und nennen Sie mich doch Kim, das ist mein erstes Geschenk an Sie.
Manche Begegnungen stellen das Leben auf den Kopf. Ich verdanke meine Rettung Kim. Ich habe mich für sein dreitägiges Praktikum »Unendliche Toleranz« angemeldet, dann habe ich mit »Jasagen« und »Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt« weitergemacht. Nun will ich es anders angehen. Bei jeder Sitzung werde ich zu einer anderen Frau. Eine Beratung ist unleugbar eine gute Sache. Ich entdecke die Öffnung, die Hoffnung in der Sauerstoffaufnahme, die Verhüllung des Inhalts, die Macht des Nein, die Flechte am Rücken und vor allem den Rausch des Vielleicht. Momentan belege ich den Abendkurs »Liebe zum anderen, Lust am Selbst«, und durch die Einführung in Östliche Therapien, die Kims Frau anbietet, mache ich Fortschritte. Mein Mann ist ein Mensch, ich bin ihm nicht überlegen. Diese Erkenntnis belastet mich allerdings, denn eines Tages werde ich nur mehr eine Seele sein. Was sollen Worte, was sollen Gedanken? – Nur die Liebe zählt. Ich war immer stolz auf meine Überlegenheit, doch heute weiß ich, dass ich lediglich ein Hauch bin, der vorüberzieht.
Zum Geburtstag habe ich meinem Mann einen Gutschein geschenkt, den er in einem Kaufhaus einlösen konnte. Und da habe ich mich wirklich bestätigt gefühlt. Er hat sich ein Buch gekauft, und als ich sah, dass er es auch las, habe ich begriffen, dass ich jahrelang die falsche Methode angewandt hatte. Ich hatte zu viel von ihm erwartet und ihn schlecht beraten. Es war an der Zeit, ihm dabei zu helfen, seinen eigenen Weg zu finden, und ihn den Weg seiner Wahrheit weitergehen zu lassen. Ich muss zugeben, dass die Reihe »Gänsehaut« für Neun- bis Vierzehnjährige sehr gut gemacht ist. Es heißt auch, sie bringe viele bockige Kinder zum Lesen. Tatsächlich hat uns Der Geisterberg zum Austausch angeregt. Kaum hatte mein Mann das Buch ausgelesen, fragte er mich enttäuscht, warum es denn so heiße. Der Titel habe nichts mit dem Inhalt zu tun, keine der Personen sei auch nur entfernt ein Gespenst. Und er hat wirklich recht! Es gefällt mir, wenn er Interesse zeigt, und ich bin zufrieden, dass er die Dinge endlich hinterfragt. Wir wollen nun zusammen an den Verlag schreiben, vielleicht bekommen wir dort eine Erklärung. Ich wiederum hatte große Schwierigkeiten, Die blaue Elfe und der Stroh-Chinese zu begreifen, ich würde gern wissen, ob es diese Personen in Wirklichkeit gegeben hat. Wenn ja, frage ich mich, welchen Dynastien sie angehörten, schließlich waren es Könige. Jedenfalls waren es außergewöhnliche Menschen.
Die große Weite
Heute Morgen wollte ich vor der Messe, der Bach-Messe, leichte Musik mit einem fröhlichen, nicht allzu schnellen Rhythmus hören. Aber das ging nicht. Er hat die CD gewechselt. Schwer sitzt er da, den Kopf im Nacken, den Mund zu einem O geöffnet, und bläst Rauchringe aus. Er hat die Beine übereinander geschlagen und starrt an die Decke; ich werde ihn nicht fragen, was er sieht. Ich habe ein helles Kleid herausgelegt, ich singe im Flur, erzähle ihm Geschichten, stelle ihm Fragen. Wird es regnen?
Ich weiß, dass er sich nicht mehr für das interessiert, was hier oder auf dieser Erde geschieht. Wenn wir nicht zu spät ins Bett kommen, wäre es schön, morgen früh aufzustehen und einen Schrank zu kaufen. Die Worte bleiben in seinem Mund, er schiebt den Bauch vor, um lautlos zuzustimmen. Ob ich die Musik leiser machen könnte? Er hat einen Finger bewegt. Ich ziehe mich vollends an, stelle mich vor ihn und warte auf etwas – ein Lächeln, ein Wort. Er schwitzt, er kommt um vor Hitze, er erkältet sich in seinem eigenen Saft, er hat Angst, große Angst, er atmet ein, steht auf, wir gehen.
Auf dem Weg werden wir anhalten und Blumen kaufen müssen. Hast du an den Wein gedacht – und an den Kuchen? Er nickt und findet wieder nicht die Kraft, Ja oder Nein zu sagen. Mit den Fingerspitzen drückt er auf den Knopf am Radio. Er stellt den Klang der Musik und meines Herzens lauter.
Wir müssen zu diesem Mittagessen fahren. Hundert Kilometer Schweiß,
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