Lieblose Legenden
sie
beschreibt ein Adagio. Aber ich muß weiter denken, an Schlaf denken, bedeutet
weit denken, und so verwerfe ich das Cello. Gewiß, die Zarge ist schön breit,
mein Rückgrat würde es sich wünschen, seine Rundung mitzuvollziehen ,
aber beim Gesäß trennten sich die Körper. Denn dort wo die Taille des
Instruments sich zum Steg verengt, biegen sich zwei doppelte Zacken einwärts,
und wenn ich meine Oberschenkel anwinkle und die Kniekehlen um die Zacke lege,
ragen meine Unterschenkel hilflos aufwärts. Das ist unbequem. Und wer soll das
Instrument spielen? Ich kann nicht durch die Enge des F-Loches auch noch einen
Bogen führen, und führte ein anderer den Bogen, so wäre ich das doppelte Opfer
des Spielers und des Stückes. Ein Pianissimo prickelte, und ein Forte wäre ein
dröhnendes Inferno. Nun sehe ich auch, daß dort drinnen schon einer schläft. Es
ist Pablo Casals, der einst berühmte Cellist. Sein Atem geht schon ein wenig
rasselnd, aber ruhig; das Herz, sein wertvollster Teil, arbeitet aber wie eh
und je. Ein Kranz von Gänseblümchen liegt leicht über der Glatze des wackeren
Katalanen, dem seine Ruhe gegönnt sei. Er hat sie sich redlich verdient.
Dicht hinter dem Cello sitzt, schief
gegen die Wand gelehnt, Albert Schweitzer. Der Tropenhelm ist ihm tief ins
Gesicht gerutscht, wird aber durch den Schnauzbart, in dem der Rest einer
Urwaldmahlzeit nistet, vom Fallen bewahrt. Er schläft und scheint schon dort zu
sein, wo im Schlaf bärbeißiges Alter und Trunkenheit dieselben Symptome
aufweisen.
Mißmutig beschließe ich, hier nicht
länger zu suchen. Meine drei nächtlichen Helferinnen muß ich mir doch wohl aus
anderen Regionen holen. Ich muß den Schritt hinaus aus dem Raum, hinein in die
Zeit tun und in ihr, sie überholend, zurückgehen.
In der Zeit habe ich mir meine drei
Wächterinnen noch einholen können. Die Wahl war nicht ganz leicht, denn es
galt, alle Eigenschaften in Betracht zu ziehen, alles von der Seele über den
Körper bis zu den Fingerspitzen, und diese ganz besonders: den
seismographischen Zeigern der Seele und gleichzeitig indiskret-beweglichen
Ausläufern des Körpers, die in meinem Fall auch noch ein paar vergessene Griffe
in die Saiten beherrschen müssen. Die Erste ist Mona Lisa. Auf den ersten Blick
schien sie mir unerwartet viele Bedingungen zu erfüllen. Auf den zweiten,
tieferen aber nüchterneren Blick sah es dann so aus, als erfülle sie keine
einzige. Erst auf den dritten Blick, der das Erblickte stets durchdringen
sollte, erkannte ich, daß sie meiner Anforderung entspreche. Mir stand da
weniger die Sicht des großen Leonardo im Weg als der schmutzig-grünliche
Zustand seines Bildes, der dem Modell mißgünstig ist. Freilich: auch das Modell
hat manches befremdliche. Daß es keine Augenbrauen hat und nur mit der linken
Mundhälfte lächelt, daran stoße ich mich nicht. Es war eine Dame, und zu ihrer
Zeit hatten nur Marktweiber Augenbrauen, und nur Kurtisanen lächelten mit
beiden Mundhälften. Was ein wenig schwerer wiegen mag, ist der Ausdruck einer
flüchtigen aber stets gegenwärtigen Idiotie, der hinter diesem Antlitz lauert.
Heute ist bekannt, daß die Gioconda in der Tat Perioden des Schwachsinns
erfuhr. Dieser Umstand gab ihr in den Augen der Mitwelt die Aura jenes
Geheimnisses, dessen Walten der gutwillige Liebhaber ihres Abbildes noch heute
zu verspüren meint. Mich selbst berührt dieses Geheimnis wenig, aber ich sehe auch in seiner Ursache kein Fehl. Ich bin es mir
und meinem Schlaf schuldig, eine meiner drei Fensterbänke mit einer
Florentinerin zu besetzen, und wer ist mehr Florentinerin als die Gioconda? Sie
hat eine edle Haltung, zudem beherrscht sie das Schweigen, und das ist es, was
ich brauche. Ihre Hände sind weich, als hätte man ihr als Kind die Knöchel
zerknetet, aber ein paar Griffe auf der Laute beherrscht sie, das weiß ich. Ein
junger Maler hat sie ihr beigebracht, als sie noch Lisa Gherardini hieß, und sie hätte gewünscht, daß er ihr noch mehr beibringe, aber er empfand
nichts für das andere Geschlecht. Später wurde er, nachdem er einen Nebenbuhler
in der Gunst des Papstes hatte beseitigen lassen, Kardinal, aber das steht auf
einem anderen Blatt. Auch ein paar Lieder beherrscht sie, die Mona Lisa. Ihre
alte Amme aus Urbino , die schon die Amme ihrer Mutter
war, hat sie ihr an der Wiege gesungen, und sie pflegt sie vornehmlich dann
angstvoll anzustimmen, wenn ihr nach Häuten und Leder riechender
Viehhändlergatte Miene macht, sich
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